Feste – Opern – Prozessionen, hrg. von Katharina Hottmann und Christine Siegert, Hildesheim: Olms 2008.
von Sarah Manthey
"Das Jahrbuch Musik und Gender ist ein neues Forum musikwissenschaftlicher Genderforschung." Mit diesem vielversprechenden Satz beginnt der Klappentext des ersten Bandes des Jahrbuchs Musik und Gender, der neben einem Hauptteil mit sieben Aufsätzen auch Berichte zu Kongressen, Ringvorlesungen und Symposien, Rezensionen von Büchern, Noten und CDs umfasst.
Feste – Opern – Prozessionen, so der Titel, nimmt sich eines Themenfeldes an, das sich auch in der (Musik-)Theaterwissenschaft und der Performance-Forschung einiger Popularität erfreut, und so wird auch von den Herausgeberinnen Katharina Hottmann und Christine Siegert interdisziplinäre Öffnung groß geschrieben: "Der methodische Zugriff der Aufsätze versteht sich als geschlechtergeschichtliche Forschung mit kulturwissenschaftlichen Mitteln", heißt es in ihrer Einleitung, womit einhergeht, dass "den Studien nicht ein bestimmtes theoretisches Gender-Konzept verbindlich zugrunde gelegt wurde" (S.14). Dies ist insofern verständlich, als nicht nur in der Musikwissenschaft, sondern in den kultur-, literatur- und sprachwissenschaftlichen Fächern allgemein, kein Konsens darüber herrscht, was genau unter Gender und Genderforschung zu verstehen ist oder zu verstehen sein sollte: Geht es in erster Linie um die Betrachtung von Frauen, zum Beispiel in einer männlich dominierten Gesellschaft? Wie analysiert man Männer und Männerbilder genderspezifisch? Setzt man bei der kulturellen Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit an, was zunächst die Anerkennung der Konstruiertheit der Geschlechter voraussetzt?
Welche Fragen dieser oder ähnlicher Art die einzelnen Autorinnen und Autoren sich stellten, welche Antworten sie gaben und erst recht, welchen Stellenwert sie diesen für die jeweiligen Aufsätze zumaßen, ist höchst unterschiedlich. Joachim Kremer beispielsweise legt in seinem Beitrag "Pietistisches Bekenntnis und öffentliche Repräsentation: Musik zum Begräbnis der Herzogswitwe Magdalena Sibylla von Württemberg (1712)" den Fokus stark auf den Repräsentationsaspekt. Er setzt zudem einen religiösen Schwerpunkt, während ihm die Tatsache, dass er sich mit der Beerdigung einer Frau beschäftigt, augenscheinlich schon genug des 'Gender' ist. Sabine Meine hingegen, deren Auseinandersetzung mit den Querelen zwischen dem katholischen Hof Ercole II d’Este und dem protestantischen Hof seiner Ehefrau Renée de Valois ebenfalls einen starken religiösen Bezug aufweist, bemüht sich stärker um eine Einbindung der Geschlechterthematik. Die Musik am Fürstinnenhof hatte nach Außen hin in der Regel keine repräsentative Funktion und war zudem, in Anbetracht der Tatsache, dass der reformatorische Glaube zu dieser Zeit in Italien verboten war, auf weltliche Inhalte beschränkt (S.43). Zudem stellt Meine die These auf, die 'ars amatoria', jene "kulturelle Praxis, in der mit Poesie und Musik Topoi einer idealen höfischen Liebe tradiert wurden" (S.40), sei nicht nur besonders geeignet gewesen, um Herrscherinnen zu huldigen, sondern habe zudem "Freiräume für eine genuin weibliche Musikförderung" geboten (S.28). Meines Ausführungen bleiben jedoch, insbesondere zum letzten Punkt, vage. So erwähnt die Autorin zwar, "dass die musikalische Ausbildung zur Selbstverständlichkeit der weiblichen höfischen Elite gehörte, zumindest solange, bis die religiösen Reformen die künstlerische Bewegungsfreiheit weiter einschränkten" (S.40), nennt auch den Namen einer Dichterin, die ihre eigenen Texte vertonte – allein, dabei bleibt es. Dies mag jedoch dem beschränkten Platz in diesem Band geschuldet sein, kann Meine doch als Expertin für das kulturelle Leben an italienischen Höfen dieser Zeit gelten.
Katrin Eggers beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit den "komplex ineinander verwobenen Repräsentationsverhältnisse[n] bei Schulaufführungen an einem Gymnasium in Altenburg um 1700" (S. 61). Neben den Schülern als Darsteller, waren insbesondere die betreuenden Lehrer, sowie der Schulrektor als Autor des Stückes an einer erfolgreichen Aufführung interessiert (S. 61). Aber auch die Eltern und letztlich die ganze Stadt wollten von 'ihrem' Gymnasium gut repräsentiert werden. Nach Meinung der Autorin könnte ein kulturhistorischer Ansatz "einen breit gefächerten Einblick in kulturelle Verhältnisse und Repräsentationsformen sowie Darstellung von Geschlechterrollen liefern und nicht zuletzt einige sonst weniger beachtete Aspekte der Beziehungen eines beginnenden Bürgertums zur Musik beleuchten" (S. 62). Ein solches Vorhaben kann natürlich nicht in einem wenige Seiten umfassenden Aufsatz umgesetzt werden, und so schneidet die Autorin, notgedrungen an der Oberfläche bleibend, einige Themenfelder an, was von den konkreten Inhalten her etwas unbefriedigend ist, aber und dies mag Eggers eigentliches Ziel gewesen sein weitere Forschungsperspektiven aufzeigt.
Einer völlig anderen Thematik widmet sich Herausgeberin Christine Siegert in "Schwangerschaft und Geburt als kulturelles Ereignis. Musikalische Aktivitäten im Umfeld der Geburt von Erzherzogin Maria Teresa (Florenz 1767)". Schwangerschaft und Geburt, kaum ein anderes Thema wurde und wird in ähnlicher Weise zur Konstruktion von Weiblichkeitsbildern verwendet und dient landläufig so stark der Stilisierung jener Personen, die als Frauen bezeichnet werden. Die Autorin betont jedoch auch die Bedeutung anderer Aspekte: Insbesondere wenn es sich um die bevorstehende Geburt des ersten Kindes eines Herrscherpaares und der Wahrnehmung derselben in der Öffentlichkeit handelt, greifen, wie Siegert nachdrücklich heraus stellt, biologische Sachverhalten, Geschlechts- und Identitätskonstruktionen stark ineinander (S.81). Zudem spielte der Aspekt der Festigung der Herrschaftskonsolidierung durch die Geburt des ältesten Kindes eine wichtige Rolle, auch wenn es sich, wie in diesem Fall nicht um einen Thronfolger, sondern 'nur' um ein Mädchen handelte, zeigte diese doch, dass das Herrscherpaar grundsätzlich in der Lage war, Kinder zu bekommen (S. 81). Dementsprechend prächtig waren die Feierlichkeiten anlässlich solcher Geburten, stellten sie doch Machtdemonstrationen nach außen wie nach innen dar. (S. 87). An dieser Stelle geht Siegert etwas abrupt zu einer Aufzählung der zu den Festlichkeiten gespielten und gesungenen Musikstücke über. Dem Aufsatz sind sieben zeitgenössische Artikel zur (bevorstehenden) Geburt aus der Gazzetta Patria und der Gazzetta Toscana als Dokumente-Sammlung beigegeben.
Besonders überzeugend ist Katharina Hottmanns Aufsatz "Vom Kaiser-Wilhelm-Marsch zur Wacht am Rhein. Die musikalische Siegesfeier in der Berliner Hofoper am 17. Juni 1871". Hottmann setzt thematisch wie auch methodisch an Schnittstellen an. Sie betrachtet sowohl den Truppeneinzug des siegreichen Heeres, als auch das Programm der Gala in der Hofoper, wobei sie neben dem Bühnengeschehen auch die Publikumsreaktionen mit einbezieht. Inszenierungs- und musikwissenschaftliche Analyse bekommen hier ihren Platz, zudem gelingt es der Autorin, zwei sehr unterschiedliche Ansätze der Genderforschung in überzeugender Weise zur Anwendung zu bringen. Zum einen nimmt Hottmann, der konventionellen Vorgehensweise der 'Frauenforschung' entsprechend, das Wirken einer Frau in den Blick, nämlich das der Komponistin Ingeborg von Bronsart, deren Kaiser-Wilhelm-Marsch bei der Gala in der Hofoper aufgeführt wurde. Zum anderen beschäftigt sich die Autorin mit der grundsätzlichen Konstruiertheit von Geschlechterbildern und deren Verquickung mit anderen, in diesem Falle nationale Repräsentationsgedanken. Sie geht zunächst auf den Truppeneinzug mit festlichem Empfang auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor ein, der gemäß einer Steigerungsdramaturgie auf den 'Auftritt' des Kaisers hin inszeniert war. Dank überlieferter Zeitungen ist der Siegeszug gut dokumentiert. Diese Zeitungen sind es auch, in denen die Konstruktion von Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten nachvollzogen werden kann. So wurde der Kaiser und Heerführer Wilhelm I. mit einem bronzenen Reiterstandbild verglichen und an seiner Haltung die "Verschmelzung des schlicht Natürlichen, einfach Männlichen" mit dem "Fürstlichen" (S. 102) hervorgehoben. Für die Weiblichkeitskonstruktion ist die Betrachtung der 63 Blumen überreichenden Ehrenjungfrauen im 'Gretchenkostüm' interessant, wobei letzterem insofern besondere Bedeutung zukam, als es "die Abgrenzung des deutschen Frauenkörpers vom französischen markierte, indem es 'ohne Koketterie die gesunde Anmuth der Jugend wohl zur Geltung' gebracht habe" (S. 101). Hottmann betrachtet auch die Rollen der weiblichen Mitwirkenden in den beiden während der Gala aufgeführten so genannten Festspielen und kommt zu dem Schluss, dass diese vor allem als allegorische Figuren in Erscheinung traten, um "'abstrakte' Werte wie Frieden, Sieg oder Germania zu körperhafter Präsenz zu bringen" (S. 106). So endete eines der Stücke mit der symbolischen Hochzeit der Braut Deutschland und des Bräutigams Kaiser Wilhelm (S. 106). Der Abschluss des Programms der Gala in der Hofoper verknüpfte schließlich institutionalisierte Aufführung und öffentliche Repräsentation: Musikalisch ging, der Titel von Hottmanns Aufsatz kündigt dies bereits an, der Kaiser-Wilhelm-Marsch in die Melodie der Wacht am Rhein über, auf der Bühne wurde ein Reiterstandbild des Kaisers enthüllt, was beim Publikum Ovationen für den 'realen' Kaiser auslöste, der wiederum diese Huldigungen entgegennahm.
Stefan Weiss ist ein weiterer Autor, der in seinem Aufsatz "'Heut seid Ihr die Stärkeren!' – Zur musikalischen Repräsentation des Frauenbildes in der frühen DDR" die Themen Gender und Repräsentation sehr überzeugend verbindet. Er betont in seiner Beschäftigung mit der musikalischen Repräsentation des Frauenbildes in der frühen DDR zunächst die, im Vergleich etwa zur damaligen Bundesrepublik, deutlich fortschrittlichere Einstellung zum Thema Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Besonders hervorgehoben wird der Umgang mit und die Bemühung um Berufstätigkeit von Frauen einerseits und die Beschäftigung mit, wenn man es so nennen will, 'weiblicher Geschichte' andererseits, in diesem Fall die Auseinandersetzung mit Komponistinnen: "Lange bevor man im Westen musikwissenschaftliche Genderforschung betrieb, arbeitete 1953 der Komponist und Musikforscher Siegfried Köhler im Auftrag des Komponistenverbandes des Bezirks Dresden an einer historisch-soziologischen Studie mit dem Titel Die Frau als Komponistin in Vergangenheit und Gegenwart [...]"(S. 115).
Anschließend untersucht Weiss drei Kantaten aus der Zeit zwischen 1951 und 1953, insbesondere hinsichtlich der darin vorgenommenen Konstituierung (neuer) Weiblichkeitsbilder. In Lilo Hermann von Paul Dessau nach einem "biographischen Poem" von Friedrich Wolf steht die Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus im Vordergrund, wobei das Gedenken an den antifaschistischen Widerstand verknüpft wird mit dem Appell an 'die Frauen', sich gegen Krieg einzusetzen. Bemerkenswert ist, dass eine moralische Überlegenheit der Frauen suggeriert wird, ihnen aber zugleich ein sehr handfester Grund zum Handeln genannt wird, nämlich die Rettung der eigenen Söhne. Ähnlich ist auch der Tenor von Hüter des Lebens von Ottmar Gerster und Hedda Zinner. Aus Mutterschaft wird hier die Verpflichtung zum Friedenskampf abgeleitet, in diesem Fall allerdings ohne gleichzeitige Verehrung einer konkreten Widerstandskämpferin, was diese Kantate universeller einsetzbar machte. In beiden Fällen konnte auf ein bereits vorhandenes Frauenbild rekurriert werden, "das Hohelied der Mutterschaft, das aus früheren Zeiten mehr als vertraut war" und zur Aktualisierung 'nur noch' mit dem Friedenskampf verknüpft werden musste (S. 125). Anders verhält es sich mit dem Frauentypus, der in Gersters Kantate Eisenkombinat Ost mit Text von Hans Marchwitza "zelebriert und popularisiert" wurde (S. 125). Hier werden Frauen als Bauende in den Blickpunkt des Interesses gerückt und die Gleichwertigkeit, im Falle der als einzigen Figur personalisierten Kranführerin Anne sogar Überlegenheit ihrer Leistungen gegenüber denen der männlichen Kollegen hervorgehoben (S. 128f.).
Am Ende des Hauptteils steht schließlich Dörte Schmidts Auseinandersetzung mit Pauline Oliveros Bonn Feier, die für die (musik-)theaterwissenschaftliche Forschung, die sich mittlerweile verstärkt mit der Klanglichkeit von 'Performances' beschäftigt, von großem Interesse ist. Schmidt setzt sich zunächst mit der Bedeutung Beethovens für die Stadt Bonn und der Geschichte der dortigen männlich-heroischen Stilisierung des Komponisten, insbesondere in Form von Beethovenfesten auseinander. Im Mittelpunkt steht jedoch Pauline Oliveros 1977 von der Stadt Bonn prämierte und im Zuge des Beethovenfestes aufgeführte Komposition, die man auch als Performance bezeichnen könnte oder als Vielzahl von Aktionen an unterschiedlichen Orten. Es gab keinen herausgehobenen Handlungsraum, 'nur' den Stadtraum in dem sich für die Dauer der Aufführung(en) normales Leben und Kunst abspielten. Zudem wurde der Beginn der Performance nicht angekündigt, was ebenfalls zur Auflösung der Grenzen beitrug. So gab es auch kein Publikum im strengen Sinne mehr, sondern nur noch Beteiligte: "Anyone who enters the city [...] during the designated but unannounced time of the performance is a knowing or unknowing participant in BONN FEIER", heißt es in der Partitur (S. 143). Feste zeitliche Grenzen im herkömmlichen Sinne gab es ebenso wenig: 15 Stunden Mindest-Zeitdauer an einem normalen Werktag fordert die Komponistin in der Partitur und auch, "dass alle Aktionen so angelegt sein müssen, dass das normale Leben ungestört weiterlaufen kann" (S. 144). Zu den wissenden Performern gehörten unter anderem Straßenkehrer, die im Frack vor dem Beethoven-Denkmal kehrten und Angler, die an Gullys saßen. Schmidts These, dass solche 'Displacements' "gesellschaftliche Strukturen der Raumordnung" offen legen, "die auch die Frage der Geschlechterordnung betreffen" (S. 146), wird in diesem Aufsatz allerdings nicht an konkreten Beispielen dar-, sondern eher in den Raum gestellt, eine Vorgehensweise, die zum Selbstverständnis des Jahrbuchs als Forum durchaus passt. Gleiches gilt für die Vielzahl der Aufsätze, die Feste – Opern – Prozessionen zum Umgang mit den Themen Musik, Gender und Repräsentation bereithält. Diese Vielfalt, insbesondere den sehr unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs Gender in den einzelnen Texten geschuldet, verursacht jedoch zugleich das Hauptproblem des Bandes: Die Zusammenstellung wirkt recht beliebig, es gibt keinen roten Faden, der die Aufsätze zusammenhalten würde und so steht letztlich jeder Text für sich alleine. Möglicherweise hätte gerade die Thematisierung der Verschiedenheit der Auffassungen von Gender eine stärkere Verbindung zwischen den Aufsätzen ermöglicht und damit auch für die Leserinnen und Leser den Mehrwert der Zusammenstellung erhöht. Dennoch bleiben einige für sich genommen spannende Texte im Hauptteil und natürlich die bei Erscheinen brandneuen Berichte zu Veranstaltungen und Rezensionen aktueller Publikationen.