Ulrike Hartung promoviert an der Universität Bayreuth im Bereich Musiktheater über Regietheater-Konzepte in aktuellen Opern.

Heft 4

Ars Acustica – Audio Art – Klangkunst

Oktober 2012

ISSN 2191-253X

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The Watermill Center. A Laboratory for Performance. Robert Wilson's Legacy, hrg. von José Enrique Macián, Sue Jane Stoker und Jörn Weisbrodt, Stuttgart: Daco 2012.

von Ulrike Hartung

Robert Wilson ist ein Theaterkünstler, der etwas geschafft hat, was eine Seltenheit in der Welt des Theaters ist: Er ist – und das lässt sich ohne Übertreibung konstatieren – ein internationaler Superstar, der nicht nur weltweit bekannt ist, sondern der es darüber hinaus vermag, sowohl eine breite Masse an Theaterpublikum zu bedienen als auch ein ebenso weites Feld an wissenschaftlicher Diskussion anzuregen. Wer es sich als Intendant finanziell erlauben kann, Robert Wilson und sein Team – keine seiner Arbeiten wäre denkbar ohne die Unterstützung seiner ihm treu ergebenen Mitarbeiter – für eine Produktion oder auch nur ein Gastspiel zu engagieren, kann davon ausgehen, dass er, zumindest was diese Vorstellungsabende angeht, keine Probleme mit der Auslastung haben wird. Robert Wilson ist seit Jahrzehnten Garant für außergewöhnliches Bildertheater, das, wenn auch über die Jahre von einer klaren und eindeutigen Handschrift geprägt, doch immer wieder zu überraschen vermag. Der hohe Output an Produktionen in internationalen Häusern in der ihr eigenen Perfektion wäre allerdings wie bereits erwähnt ohne eine eingespielte Maschinerie an Assistenten und Mitarbeitern nicht möglich.

Seit seinen frühen Anfängen als Künstler verstand Wilson es, die Menschen um sich herum für seine ästhetischen Experimente zu mobilisieren. Schon als Kind hatte er kleine Theateraufführungen im Hinterhof mit den Nachbarskindern organisiert. Diese Gabe, Menschen für seine künstlerischen Vorhaben zu gewinnen, steigerte sich immer weiter und gipfelte in seiner Biografie ein erstes Mal in der Byrd Hoffman School of Byrds (nach der Bewegungstherapeutin seiner Kindheit benannt), die er als junger Künstler im New York der 1960er Jahre gründete.1 Die schlussendliche Auflösung dieser 'Schule' kam für viele seiner Mitglieder einer existenziellen Katastrophe gleich. Es war bereits damals ein Mythos um den jungen und überaus charismatischen Künstler entstanden, der sogar dazu führte, dass man der Byrd Hoffman School of Byrds sektenähnliche Strukturen unterstellte. Ihr Ende und die damit verbundenen dramatischen Schicksale einiger ehemaliger Mitglieder untermauerten solche Unterstellungen schließlich. Wilson begründete die Auflösung damit, dass viele der Mitglieder seiner Schule sich zu sehr von ihm abhängig gemacht hatten und dass dies dem ursprünglichen Tenor der School widerspreche. Nichtsdestotrotz präferiert Wilson bis heute die Arbeit im Kollektiv – unter seiner Leitung selbstverständlich. Anfang der 1980er Jahre erfüllte er sich diesbezüglich einen Traum. Er kaufte ein altes stillgelegtes und heruntergekommenes Western Union-Gebäude in der amerikanischen Stadt Water Mill in den Hamptons und gründete dort das gleichnamige und mittlerweile weltweit bekannte Watermill Center. Es handelt sich dabei nicht nur um seinen privaten Wohnort, sondern auch um sein Atelier, seine Arbeitsstätte gewissermaßen, wohin er jeden Sommer im Rahmen von Kursen Künstler aus aller Welt einlädt, um mit ihnen zu kooperieren. Dort werden jährlich allein in den Sommerkursen zwischen zehn und zwölf Projekte parallel bearbeitet, deren Ergebnisse Wilson im Anschluss in seine zumeist in Europa angesiedelten Theater- und Kunstprojekte integriert. Weitere Kurse finden im Frühjahr und Herbst statt.

Neben der Beschreibung dieser Kurse befasst sich der vorliegende in seinem Umfang imposante Band2 The Watermill Center. A Laboratory for Performance. Robert Wilson's Legacy sowohl mit der Vorgeschichte und der Entstehung des Watermill Centers als auch mit seinen architektonischen Besonderheiten sowie mit seiner integrierten Kunstsammlung. Er liefert zudem über die Historie hinaus einen Ausblick auf zukünftige Vorhaben. Die Besonderheit dabei ist, dass es sich weniger um eine objektive Dokumentation durch einen Einzelnen handelt, sondern vielmehr um eine Versammlung subjektiver Eindrücke: Neben Wilsons vielzähligen Mitarbeitern und Kollaborateuren, Künstlern und Freunden kommt auch Wilson selbst zu Wort. Es handelt sich also weniger um eine wissenschaftliche als um eine dokumentarische Publikation, die aus hochgradig subjektiven Einzelperspektiven besteht. Somit werden Entstehungsgeschichte, strukturelle Besonderheiten sowie die Arbeitsweise innerhalb der Kurse usw. nicht aus einem Blickwinkel von außen beschrieben. Der Leser erhält eher einen Einblick aus verschiedenen Perspektiven, gewissermaßen von innen heraus – und zwar historisch wie aktuell. Dies ist insofern sinnvoll, als damit der Vielseitigkeit der Wirkungsstätte umfassend Rechnung getragen wird. Die vermeintliche Gefahr der starken Subjektivität, gerade im Zusammenhang mit Künstlern wie Robert Wilson, liegt in der bereits erwähnten ‚Ergebenheitʻ vieler seiner Kollaborateure. Einige Texte befassen sich kaum mit den tatsächlichen künstlerischen Schaffensprozessen oder konzentrieren sich nur auf das konkrete Leben in Watermill. Sie sind vielmehr Spiegel einer tiefen über viele Jahre gewachsenen Verehrung des anleitenden Künstlers, die relativ wenig aussagekräftig für den außenstehenden Leser – im Sinne einer Dokumentation – sind. Insbesondere die Texte, die sich mit den Kursen beschäftigen tendieren dazu. Daher wären einige Beiträge gerade aus diesem Bereich kritisch zu sehen; anderen Autoren allerdings gelingt es wiederum sehr gut, ein mehr oder weniger professionelles Niveau in der Betrachtung der gemeinsamen Arbeit (und auch Lebens) zu wahren. Sicherlich kein leichtes Unterfangen und daher vielleicht umso wertvoller. Viele der Beiträge, die sich mit der Geschichte und vor allem mit der Kunstsammlung beschäftigen, nehmen eine 'objektivere' Haltung ein und gewähren interessante Einblicke. Auch die historische Übersicht ermöglicht eine Erfassung der Entstehung und der Gestaltung des Centers über 'neutrale' Daten.

Was bei allen Beiträgen der Herausgeber und auch in den vieler anderer mit-schwingt, ist die Positionierung innerhalb des Watermill Centers. Immer wieder wird durch Wilson selbst, aber vor allem durch seine Mitarbeiter betont, dass es sich hierbei nicht um eine Wilson-Schule handelt. Gleich zu Beginn im Vorwort heißt es: "An institution can be more than the lengthened shadow of one man. The Watermill Center is proof of that." (S. 8) Es will Künstlern die seltene Gelegenheit bieten, etwas zu riskieren, mithin auch mit dem Ergebnis des Scheiterns. In diesem Sinne sehen sie sich – so Jörn Weisbrodt, der Co-Director des Centers – in der künstlerischen und institutionellen Tradition der Bayreuther Festspiele oder auch der Salzburger Festspiele: Als Plattform also mit keinem geringeren Ziel als "to create the strongest work for our time and to establish the cultural legacy of the future." (S. 340) Wilsons konstante Frage, die die Arbeit in diesem Center begleite, sei stets "what is it? Not say what it is, for if we know what we are doing, there’s no reason to do it. We should always do what no one else is doing." (S. 342) Das sind natürlich sehr hochgesteckte Ziele und auch der Tonfall der Beschreibung dessen, was das Watermill Center als seine Aufgabe sieht, steht nicht immer ganz im richtigen Verhältnis zur Realität. Es ist zu spüren, dass Wilson zu dem geworden ist, was man eine 'lebende Legende' nennt und dass sein Charisma, das die Byrd Hoffman School of Byrds bereits in den 1960er Jahren so grundlegend prägte, an Wirkung kaum eingebüßt zu haben scheint. Neben vielen, interessant beschriebenen Aspekten ist dies etwas, das hier häufig mitzuschwingen scheint.

In diesem Sinne ist wohl auch das Bestreben der Herausgeber zu sehen, dass in einem gesonderten Kapitel einige Kunstprojekte als repräsentative Beispiele gezeigt werden, die nicht unter Wilsons Leitung entstanden und/oder schließlich nicht Teil einer seiner Inszenierungen und Arbeiten wurden, die aber dennoch im großen Rahmen in Watermill entstanden und präsentiert wurden. Es scheint der Versuch zu sein, genau diesem Eindruck entgegen zu wirken. Als besonders prominentes Beispiel ist hier Jonathan Meeses Installation Marlene Dietrich in Dr. No's Ludovico Clinic (Dr. Baby's Erzland) von 2008 zu nennen. Ein deutliches Beispiel dafür, wie wenig nationale oder gar kontinentale Grenzen innerhalb zeitgenössischer (westlicher) Kunstproduktion bestehen. Wie kontrastreich eine solche Begegnung aber sein und wie viel Reibung sie hervorbringen kann, zeigt folgende Aussage Wilsons zu dieser Installation: "I can't believe I am working so hard to make Watermill what it is and get rid of all this suburban trash, and here it comes back as art! Oh well, I guess that’s life..." (S. 334)

So sehr die Herausgeber es gerade durch solche Kapitel versuchen zu betonen, dass Watermill eben keine Wilson-Schule ist und nicht alles von ihm dominiert wird, fällt es doch bei weiterer Lektüre zunehmend schwerer das zu glauben. Wie schon zuvor in der Byrd Hoffman School of Byrds scheint auch Watermill regelrechte Wilson-Anhänger hervorzubringen. Einige der Beiträge zeugen davon und widersprechen immens dem Bestreben der Herausgeber und einiger anderer Autoren, diesen Sachverhalt nach außen anders wirken zu lassen. Wie auch immer man dazu stehen mag, der grundlegenden Qualität des Bandes – was die Dokumentation insbesondere der Entstehung des Centers sowie seiner Kunstsammlung angeht – schadet es nur bedingt.

Das Kapitel, das sich mit eben dieser Sammlung, der Watermill Collection, auseinandersetzt, zählt zu einem der aufschlussreichsten und interessantesten des Buches. Wilson beschreibt selbst, die Sammlung verstehe er als nichts weniger als ein Zeugnis der menschlichen Geschichte. Er zitiert Noël Monod, einen amerikanischen Ökonomen, dem er bereits 1959 an der University of Texas im Rahmen eines Vortrags begegnete (S. 230):

 

We understand a nation through its individuals, and the individual through art. Artists are the diaries and journals of their time. We can only understand where we are today by reflecting on the past.

Die Bedeutung dieser Begegnung scheint von großer Relevanz für seine Sammlung im Besonderen und für sein Kunstschaffen im Allgemeinen zu sein. Über diese von Monod beschriebene historische Dokumentationsfunktion der Kunst hinaus sei es überaus wichtig für ihn als Künstler und für seine Kollaboration mit anderen Künstlern, mit und in Kunst zu leben, sich mit ihr zu umgeben. Er kritisiert den Mangel an Kunst in den künstlerischen Bildungsstätten, die er während seiner Studien besuchte. Deswegen sollte Watermill anders werden. Der Großteil der Sammlung wird in einem Archiv im Haus gelagert, das aber jederzeit betreten werden kann und aus dem die meisten Objekte entnommen werden können – "for contemplation and study". "In this way, never leaving the Center, one could travel the world, go back in time, and study the history of man" (S. 231). Dazu Noah Koshbin zusammenfassend (S. 232):

 

The Watermill Center Collection is about the relationships among different media, cultures, artists, approaches, and contexts. It cuts across cultures and periods and in my mind is more reflective of the times in which we live today. In that way, it presents one with an experience that is different from what one would normally have in a traditional museum or gallery. To put it simply, Watermill is a center where different cultures come together. The Collection is housed in a place where performers, thinkers, artists, and scientists from different cultures and disciplines come to collaborate; the art, the Collection itself, does the same.

Eine Besonderheit in Wilsons Betrachtung von Kunst – sowohl seiner eigenen als auch der anderer – ist die Hierarchiefreiheit, mit der die Werke arrangiert sind. Dieses Nebeneinander kennzeichnet stark die Art und Weise, wie Wilson selbst seine Bühnenproduktionen erarbeitet: Das sogenannte track working, bei dem die einzelnen Spuren wie Bühnenbild, Licht, Kostüme usw. – die tracks – mehr oder weniger isoliert voneinander entstehen und schließlich zu einem Werk zusammengeführt werden, scheint auch den Umgang mit Kunst der Sammlung im Watermill Center zu prägen. Ein Werk Andy Warhols hat darin beispielsweise denselben Stellenwert wie Bilder und Objekte von Clementine Hunter, einer wenig bekannten afroamerikanischen Künstlerin aus Louisiana, von der er einige seiner ersten Werke überhaupt erwarb. Ebenso zählen eine große Anzahl Stühle aus aller Welt und diversen Epochen sowie andere eher volkskundliche Objekte dazu. Die Sammlung scheint in ihrer Struktur höchst heterogen und daher aber gleichzeitig so außergewöhnlich zu sein. Die im Band enthaltenen fotografischen Abbildungen vieler Objekte und auch ihrer Arrangements verdeutlichen dies.

The Watermill Center ist, so lässt sich abschließend und neben aller Kritik sagen, das erste Buch, dass sich Wilsons kollektiver Arbeit so umfassend widmet. Absolute Wilson von Katharina Otto-Bernstein3 aus dem Jahre 2006 reißt dieses Thema zwar an, ist aber doch eine Biografie des Künstlers selbst und weniger des ihn umgebenden Kollektivs – wenn auch mindestens genauso umfassend und mit ebenso beeindruckendem dokumentarischem und fotografischem Material.

Die beiden genannten Bände sind in ihrem Umfang, Format und ihrer Qualität einzigartig auf dem Markt – der eine auf den Künstler, der andere auf seine Wirkungsstätte bezogen. Sie dürften Grundlage für weitreichende weitere – wissenschaftliche – Beschäftigung mit Wilson, seinem Werk und dem daraus resultierenden Einfluss auf die zeitgenössische Kunst sein. Auch und vielleicht gerade weil sie selbst keine wissenschaftlichen Publikationen sind.

 


1 Vgl. Katharina Otto-Bernstein, Absolute Wilson. The Biography, München 2006, S. 50.

2 360 Seiten mit 468 überwiegend farbigen Abbildungen, in den Ausmaßen 28,4 x 24,6 cm.

3 Otto-Bernstein,  Absolute Wilson (s. Anm. 1).