Hans J Wulff ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und u.a. Initiator der Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung.

Heft 4

Ars Acustica – Audio Art – Klangkunst

Oktober 2012

ISSN 2191-253X

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Daniela Schulz, Wenn die Musik spielt... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre, Bielefeld: Transcript 2012

von Hans J. Wulff

In vielen Geschichten des deutschen Films steht der Schlagerfilm als lebendiger Beweis für das Zurücktreten jedweden ästhetischen Anspruchs, den Film erfüllen könnte. Stattdessen trete ein flaches Unterhaltungskonzept in den Vordergrund, durchsetzt mit restaurativen Elementen, ablenkend von den Realitäten der Zeit, eskapistischen Neigungen eines kleinbürgerlichen Publikums Vorschub leistend. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass der Schlagerfilm eines der größten und erfolgreichsten Genres der deutschen Filmproduktion der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre gewesen ist. Und doch ist eine Untersuchung des mehrere hundert Filme umfassenden Korpus bis heute ausgeblieben1. Schulz' Kölner Dissertation aus dem Jahre 2011 betritt also Neuland, allein der Mut, sich der so missachteten Gattung anzunehmen, verdient Respekt.

Film und Musik standen immer in großer Nähe zueinander, fast von Beginn der Filmgeschichte an. Mit dem Tonfilm entwickelten sich eigene Musikfilmgenres – das Musical und der Tanzfilm, der Sängerfilm und die Filmoperette, der Revuefilm und der Gassenhauerfilm.2 Das Formenarsenal aus jenen Jahren bleibt auch im Schlagerfilm lebendig, doch geht das Genre neue Verbindungen ein (insbesondere zum Tourismus- und zum Heimatfilm), die Integration der Lieder in die Erzählung tritt zurück, sie erlangen eine Selbständigkeit, die sie in den Jahrzehnten vorher nie erlangt hatten.

Die Affinität von Film und Musik beruht nicht nur auf der Attraktivität des Musiktheaters und seiner zahlreichen Formen und lässt sich auch nicht allein aus der entrealisierenden, emotionalen Kraft der Musik ableiten, die der Filmhandlung den Anschein intensivierten Erlebens gibt. Hier bedarf es tieferen Nachdenkens, wie Musik beziehungsweise Musiknummern in Filmen das Erleben des Zuschauers gegenüber dem illusionierenden Sog der Erzählung re-positionieren, wie musikalische Performances einen eigenen Zugang zur erzählten Welt schaffen, wie sie sich vielleicht auch von der Unterstützung der Filmhandlung lösen und sich den dargestellten Sujets anhaften –  was die These, dass manche dieser Filme Tourismus-Werbung für Italien und andere Urlaubsorte betrieben, nur unterstützen würde. Eines zeigt sich in den detaillierten Einzelanalysen Schulz' sehr schnell: Es lohnt, noch näher an das Material heranzugehen, eine mikrodramaturgische Auflösung dessen anstrebend, was im jeweiligen Film gemacht wird und wie externe Bedeutungen importiert werden. Leider hat die Autorin auf einen Index verzichtet.

Schulz gründet ihre Untersuchung auf mehrere Annahmen, die miteinander zusammenhängen, die aber je eigene Aufmerksamkeit verdienen. Ausgehend von der ökonomischen Verflechtung von Film- und Musikindustrie bereits in den 1930ern und 1940ern (S. 101 et passim) kommt es in den 1950ern und den folgenden Dekaden zu einem weiteren Zusammenwachsen der beiden Unterhaltungsbranchen, unterstützt von technischen Veränderungen (Radio, Schallplatte, Tonband), die in die alle Bevölkerungsteile erfassende Verbreitung des Fernsehens einmünden, das seinerseits viele Formate des Musikfilms und des Musiktheaters adaptierte und weiterentwickelte. Es kommt auch zur Fusion zweier Starsysteme, dem des Films und dem der Musik. Musikanten agieren als Schauspieler, Schauspieler als Sänger. Einige der bekanntesten Interpreten in der Geschichte des Schlagerfilms sind musizierende Schauspieler beziehungsweise schauspielernde Musiker (von Caterina Valente über Fred Bertelmann bis zu Udo Jürgens und Conny Froboess). Die dramatische Rolle wird bei alledem instabil und doppelgesichtig (S. 219 und S. 239). Wenn Freddy Quinn singt, tritt der Sänger und Schauspieler vor die Rolle und geht erst nach dem Auftritt wieder in die zweite Realität des Spiels und seine darin definierte Rolle zurück, die Handlung kann weitergehen. Wie schon im Sängerfilm (der im Übrigen auch in den 1950ern noch eine lebendige Gattung war) oszilliert das Doppel von Schauspieler und Figur, verliert seine Einheit immer wieder.

Schon im Musikfilm der 1930er und 1940er gab es eine Tendenz, die Durchdringung des Erzählens und des Musizierens im Kino nicht nur zu praktizieren, sondern es auch zum Thema zu machen. Am explizitesten beziehen sich die Backstage-Geschichten auf die eigene Gemachtheit – und sie garantieren eine organische Einbindung der Musiknummern in der Erzählung, haben die höchste Motivation für den Übergang der normalen Handlung zur musikalischen Einlage. Auch in Schulz' Darstellung ist die Unterbrechung des Handlungsflusses durch die Musiknummer ein zentraler Punkt. Immerhin fällt die Konzentration auf den Fortgang des Geschehens zeitweilig in sich zusammen. Im Musical nennt man die Musiknummer oft Show stopper, darin auf die so eigene Rhythmisierung des Erzählflusses hinweisend, die einer Intensivierung der Illusionierungs- und Identifikationsprozesse der Rezeption so klar entgegenzustehen scheint. In der Erzählpraxis des Schlagerfilms gibt es eine ganze Reihe von Verfahren, den Bruch zu mildern und die Lieder (oder allgemeiner: die Musiknummern) an Elemente der erzählten Welt oder der Erzählung selbst anzubinden. Sei es, dass Schlagermelodien leitmotivisch verwendet werden, sei es, dass Figuren singend ihrer Emotion Ausdruck verleihen, sei es, dass sie im Gewand des Liedes andere Figuren ansprechen (zum Beispiel als musikalisierte Liebeserklärungen), sei es, dass die Lieder ganz allgemein mit dem Handlungsort verknüpft sind: Die Nummern fügen sich mit der Erzählung zu einem eigenen Netzwerk von manchmal äußerst heterogenen Bedeutungen zusammen.

Schulz geht noch weiter und formuliert die These, dass die Filme des untersuchten Korpus auf eine formal-ästhetische Reflexion nicht nur des generischen Musters der Nummernfolge ausgerichtet sind, sondern dass sie auch über die (auch ökonomisch und technisch bedingte) alltagspraktische Integration des Musikalischen in die Strukturen des gesellschaftlichen Wissens Rechnung ablegen. Der Schlagerfilm erscheint dann als ein neues ästhetisches Format der Unterhaltungskultur, signalisiert also nicht einen Verfall ästhetischer Qualität, sondern verlangt nach einem ganz eigenen Zugang, darin anderen Ausdrucksformen des Populärkulturellen ähnlich, die sich unter ästhetischen Maßstäben eines wie auch immer gearteten Kunstbegriffs so gar nicht zu fügen scheinen.

Schulz gibt zunächst einen knappen Überblick über die oft minimalen Hinweise zum Schlagerfilm, die sich in der filmhistoriographischen Literatur finden. Es folgt ein ebenfalls kurzer Überblick über die Traditionen des Musikfilms sowie über die Wandlung des Begriffs „Schlager“ von einem Erfolgsbegriff zu einem Genrebegriff (S. 69 f. – wobei vermerkt sein sollte, dass die Bezeichnung „Schlagerfilm“ schon in den Nachkriegsjahren als Produktionsformel verwendet wurde, also keine erst im Nachhinein gefundene Bezeichnung ist). Vor allem am Beispiel der Adaptionen des 1930 uraufgeführten Singspiels Im weißen Rößl von Ralph Benatzky – es liegen Adaptionen und Neufassungen aus den Jahren 1952, 1960, 1961 und 1972 vor – versucht die Autorin sodann den Schlagerfilm als Hybridgenre zu beschreiben, der durch das „Umschreiben“ von Stoffen eine Anpassung an jeweils zeitgenössische Kontexte betreibt.

Nicht nur die Rolle des Fernsehens als ein Medium, das Musikaufführungen ähnlich wie der Film audiovisuell darbieten kann, muss in der Entwicklung des Schlagerfilms bedacht werden, sondern auch sich verändernde Formen der Orientierung von Zuschauern im Angebot des je aktuellen Musikmarktes (ablesbar etwa an der Rolle der Charts und Hitparaden, aber auch der jugendkulturellen Bedeutung des Senders Radio Luxemburg) sowie die Bedeutung von Schlagerwettbewerben wie vor allem des Eurovision Song Contest, der seit 1956 von der European Broadcast Union veranstaltet und europaweit distribuiert wird.3 Auch die Nutzung der Popularitätspotentiale von Stars anderer Bereiche der Populärkultur wie vor allem von Sportlern und Sportlerinnen, die im Schlagerfilm aufgetreten sind, deuten auf eine zunehmende Bedeutung von „symbolischen Verwertungsketten“ hin, die Popularität als Ware auswertet – die so fassbare Ökonomisierung des Musikmarktes wird von Schulz aber nicht weiter thematisiert. Weitere Kapitel untersuchen die zahllosen autothematischen Vorspänne von Schlagerfilmen, die sich durchwegs selbst als Vertreter ihrer Gattung ankündigen, die ungebrochene Tradition der Backstage stories, die Elemente des Tanz- und Revuefilms, wie sie sich in den Filmen mit Caterina Valente finden, die Nähe von Heimat- und Schlagerfilm und die Bedeutung des Fernwehs, in Sonderheit die Bedeutung der Südsee in Filmen mit Freddy Quinn.

Aufgrund des Themas und der Fülle der Bezüge, die Schulz aufreißt und die bedacht werden müssen, wenn man den Schlagerfilm als eine populärkulturelle Filmgattung sinnvoll beschreiben will, hat die Arbeit ohne Zweifel hohen Wert. Auch die als Kern der Überlegung gesetzte These, ihn als Hybridgenre anzusehen, ihn im permanenten Anpassungsprozess an die sich verändernden sozialen und geschmacklichen Kontexte zu begreifen und gerade darin eine ihm eigene ästhetische Qualität aufzusuchen, überzeugt. Schlagerfilm sei nur als „Medienfilm“ sinnvoll zu erfassen, heißt es einmal (S. 28) – und man ist geneigt, den Gedanken fortzusetzen und zu verbreitern: Schlagerfilm ist hybrid, lagert sich symbiotisch an andere Genres an, moduliert ein übersichtliches Ensemble von narrativen Motiven und dramatischen Figuren und Konstellationen; und er greift zurück auf die Horizonte des erworbenen Wissens von Zuschauern, spielt damit, setzt es in neue assoziative Beziehungen oder beutet seine älteren Affektpotentiale aus. Es sind die Brüche, die Unwahrscheinlichkeiten, das Zurücktreten der narrativen Dichte und Plausibilität, die für ein Verständnis der Wirkungsmechanismen, auf die diese Filme abzielen, mindestens so interessant sind wie ihre Traditionalismen, die Absehbarkeit und Konfektioniertheit mancher Handlungen, die mangelnde psychologische Tiefe der Figuren, die oft wie Abziehbilder oder Karikaturen sozialer und dramatischer Typen wirken.

Das Nummernprinzip bedingt nicht nur ein zeitweiliges Zurücktreten oder gar Aussetzen des Narrativen, sondern führt auch zu einer Verlagerung des repräsentationalen Zentrums – die Lieder sind im Performativen verankert, nicht im Narrativen. Entsprechend tritt das Attraktionelle, der Schauwert, vor die Erzählung. Die Bewegung (vor allem in Tanz- und Revuenummern), der fast immer mit der Musik koordinierte Gefühlsausdruck, oft auch Momente der Kulisse oder der Landschaft oder manchmal an Slapstick erinnernde komische Einlagen zielen auf ganz andere Rezeptionsgratifikationen, als sie die Erzählung anbieten könnte. Schlagerfilme binden den Zuschauer in einer Doppelstrategie, das verbindet sie mit manchen älteren Formen des Musicals, der Operette und des Singspiels (und in einem noch weiteren Sinne mit manchen Spielarten der Komödie). Schulz spricht ganz zu Beginn ihrer Ausführungen vom Schlagerfilm als „perforierter Form“ (S. 13), der der Schlager als konfektionierte Größe hinzugefügt werde, so dass eine Form zwischen Nummernrevue und Erzählung entsteht.

Die Darstellung Schulz' legt einzelne Aspekte und Themen des so umfangreichen Genres wie in einem Kaleidoskop nebeneinander. Auch in den einzelnen Kapiteln finden sich manchmal lange Exkurse (etwa zur neueren Programmgeschichte des Fernsehens oder zur Geschichte einzelner Genrefiguren). Das ist durchaus anregend und verlockt den Leser, weitere Überlegung anzustellen. Allerdings verliert der Leser dabei manchmal den größeren Zusammenhang aus den Augen. Das ist schade, weil die Frage angerissen wird, ob Schlager und Schlagerfilme im Besonderen dazu dienen, Emotionalität zu sozialisieren, so dass sie zu Chiffren von Gefühlen oder Gefühlsausdrücken werden. Dies würde auf einen tieferen Horizont von Rezeption hindeuten, in dem Schlager dem Zuschauer dazu dienen können, eigenes Erfahren zu formatieren4: weil sie zu Gedächtnisinhalten werden, kommunikativ umspielt, zitiert, parodiert oder – auf Tonträgern – situativ in eigener sozialer Praxis genutzt werden können. Schlager sind Teil des kollektiven Gedächtnisses, indizieren ihre Zeit und die damit verbundenen Gefühlskulturen. Schlager gehören der Schnelllebigkeit des Schlagergeschäfts an (deshalb sind Stars ein Mittel, dem entgegenzuwirken und längere Bindungen von Rezipienten aufzubauen); aber sie können auch zu Evergreens werden, sich vielleicht von ihren ursprünglichen Kontexten trennen und ein Eigenleben führen. Dann treten sie aus dem Feld der momentanen Affizierung in das des kulturellen Gedächtnisses ein. Sie werden zu kanonisiertem Wissen.

 


1 Vgl. den bibliographischen Überblick über den Stand der Schlagerforschung, den ich jüngst zusammengestellt habe: Hans J. Wulff, „Schlager, Schlagerfilm, Schlagerforschung. Ein bibliographisches Dossier“, in: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere, 134, 2012, URL: http://www.rrz.uni-hamburg.de/Medien/berichte/arbeiten/0134_l2.pdf.

2 Die Untersuchung vor allem der deutschen Musikfilm-Gattungen der 1930er und 1940er Jahre ist dank der Arbeit der Cinegraph-Gruppe in den letzten Jahren viel weiter vorangeschritten. Vgl. dazu: MusikSpektakelFilm. Musiktheater und Tanzkultur im deutschen Film (1922-1937),hrg. v. Hans-Michael Bock u.a. München 1998, sowie: Als die Filme singen lernten. Innovation und Tradition im Musikfilm 1928-1938, hrg. von Malte Hagener und Jan Hans, München 1999.

3 Die Auseinandersetzung um musikalische Stile ist im Übrigen ein Thema, das die Schlagerfilme häufig selbst thematisieren. Da geht es um die Abgrenzung jugendkultureller Stile, um die Infiltration der populären Musikkultur durch Elemente der amerikanischen Unterhaltungsmusik (wie etwa seit Mitte der 1950er den Jazz und den Rock‘n‘Roll), um die Durchsetzung von geschmacklicher Urteilshoheit etc.

4 Leider nur ganz am Rande kommt Schulz auf die Möglichkeit zu sprechen, dass Filmfiguren als Rollenmodelle fungieren können; vgl. S. 92. Dass es dabei auch zu einer Entsubjektivierung von Erfahrung gehen kann, ist ein Topos wohl nur der älteren Kritik an der Schlagermusik gewesen; vgl. dazu S. 93 f. Dem sei aber entgegengehalten, dass die Frage, in welchem Maße zumindest ein Teil der Schlagerfilme ironisch gelesen wurde und möglicherweise sogar zum „Camp“ gerechnet werden muss (vgl. S. 122), in Schulz‘ Untersuchung unbeantwortet bleibt. Verwiesen sei auch auf eine gelegentliche Bemerkung, dass die Filme kompensatorische Funktionen ausübten bzw. unterdrückten Träumen Ausdruck verliehen (S. 238). Ob das Mitsingen im Kino ein zusätzliches Gemeinschaftserlebnis dargestellt hat (S. 279 et passim), bedarf eigener Forschung; allerdings dürfte klar sein, dass es in inniger Beziehung zu der Annahme steht, mittels des Schlagers Erfahrung zu konstituieren.