Dominic Larue ist Promotionsstudent in Bayreuth.

Issue 2

Playing Music - Video Games and Music

July 2011

ISSN 2191-253X

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Malte Friedrich, Urbane Klänge. Popmusik und Imagination der Stadt , Bielefeld: Transcript 2010

von Dominic Larue

Fragen der Urbanität rücken seit einigen Jahren vermehrt ins Zentrum des Interesses der Kultur- und Sozialwissenschaften und so auch der Musikwissenschaft.1 Ein aktueller Beitrag zu möglichen Korrelationen von Musik und urbanem Raum ist vorliegende Arbeit des Soziologen Malte Friedrich. Der Autor widmet sich der Frage, "welchen Einfluss die Stadtumgebung auf die Produktion von populärer Musik hat und wie diese die Wahrnehmungsweise und das Erleben von Stadt mit beeinflusst." (S. 14) Dabei geht es ihm um die Schließung einer Lücke in der Stadtforschung, die er in der fehlenden Würdigung musikalischer Klänge als Repräsentationen des Urbanen ausmacht. Auch die Musiksoziologie vernachlässige, selbst dort, wo sie sich mit Musik in einem städtischen Kontext befasse, die "Herstellung des Zusammenhangs von Musik, Repräsentation und Konsum." (S. 12) Um hier Abhilfe zu schaffen, untersucht Friedrich – mit Bezug auf die Fallbeispiele dreier populärer Musikstile, "deren Ursprünge eng mit urbanen Agglomerationsräumen in Verbindung stehen […]: Punk, HipHop und Techno" – "nicht nur die Praktiken […], sondern auch die Bedeutungen der dabei produzierten musikalischen Artefakte", und erarbeitet "Argumente für eine enge Wechselwirkung von Stadt, Imagination und populärer Musik"(S. 13-14).

In einem ersten Abschnitt wird dazu die Bedeutung der Stadt als Produktionsort populärer Musik herausgearbeitet, bevor in einem zweiten Schritt unter Bezugnahme auf aktuelle Literatur der Stadtforschung die Stadt der Gegenwart als "Konsumraum" definiert und die Imagination als treibende Kraft des Konsums bestimmt wird. Repräsentationen der Stadt spielten bei dieser Imagination eine wichtige Rolle als Material der von Friedrich beschriebenen konsumorientierten Tagträume. Im vierten Kapitel führt der Autor sodann in die drei genannten Musikstile ein, die er als jeweils ein bestimmtes Stadtbild repräsentierend und somit als Ressource verschiedener urbaner Tagträume ansieht. Im fünften Kapitel geht es anschließend um die "Vergemeinschaftungsformen" von Punk, HipHop und Techno und damit auch um die Frage, was denn "die Musik der Musikkultur repräsentiere" (S. 16). Dabei weist der Autor die wirkmächtige Subkulturtheorie mit ihrem Postulat enger Verknüpfungen zwischen musikalischem Artefakt und der sozialen Praxis bestimmter Gruppen als zu starr zurück. Lieber wendet er das flexiblere Konzept der "urbanen Szene" an, die über vielfältige Praktiken, Inszenierungen und Imaginationen entsteht. Auch wenn Friedrich also nicht von einer direkten Repräsentation sozialer Gruppen durch Musik ausgeht, so glaubt er trotzdem – entsprechend seiner theoretischen Herleitung –, die "Beziehung zwischen der Stadt, ihren Bewohnern und der Musik, die sie in urbanen Musikszenen erschaffen" (S. 201), sei mithilfe des Repräsentationsbegriffs zu klären, und wendet sich daher im Folgenden prominenten Theorien zur musikalischen Repräsentation zu.

Die klassische Auffassung Adornos, nach welcher sich die "Form eines Kunstwerks auf die soziale Realität" (S. 206) beziehe, erweist sich in diesem Zusammenhang für Friedrich als ebenso wenig geeignet wie die Arbeit Jacques Attalis, da beide Ansätze nicht in der Lage seien zu zeigen, "dass die unterstellte Beziehung zwischen Gesellschaft und Musik in der Weise besteht, wie sie es postulieren." (S. 223) Sie seien vielmehr aufgrund ihrer theoretischen Vorannahmen anfällig für Werturteile, wie beispielsweise im Falle Adornos die Ablehnung jeglicher Formen populärer Musik, und pressten die Vielfalt von Musikkulturen in theoretische Korsetts anstatt sie zum Ausgangspunkt tragfähiger Theoriebildung zu machen. Trotz dieses klaren Urteils hält der Autor weiterhin an der Idee einer musikalischen Repräsentation des Städtischen durch Musik fest und sieht in Adornos Betonung der zentralen Bedeutung musikalischer Form für die Widerspiegelung des Sozialen einen möglichen Ansatzpunkt weiterer Überlegungen. Entsprechend schlägt er vor, nach "Ähnlichkeiten zwischen grundsätzlichen Prinzipien der Musik und der städtischen Umgebung, in der sie entsteht", (S. 223) zu suchen. Unter Rückgriff auf unter anderem die Soundscape-Forschungen von R. Murray Schafer oder die ästhetischen Ideen der Futuristen leitet Friedrich den städtischen Charakter der drei von ihm untersuchten Musikstile her. Diese Genres korrespondieren ihm zufolge durch zwei Prinzipien mit dem Stadtraum: die Verwendung von Lärm sowie das Prinzip der Montage und Überlagerung verschiedener klanglicher Schichten. In Anlehnung an die Gedanken Peter Kivys zu Möglichkeiten musikalischer Repräsentation spricht Friedrich mit Bezug auf die genannten klanglichen Merkmale von einer "strukturellen Isomorphie" zwischen Musik und Stadtraum. Die Stadt werde hierbei jedoch nicht im Sinne eines Abbildes repräsentiert, sondern vielmehr erzeugten die derart ästhetisch geprägten Musikstile eine "idealisierte urbane Atmosphäre". Urban werde diese durch die genannten formal-ästhetischen Eigenschaften, durch die sie auf den städtischen Raum verweise. Idealisiert nennt Friedrich sie, da durch ihre rhythmische Gestaltung und Organisation der Klänge der "Kakophonie" und sozialen Entfremdung der Stadt eine geordnete, zugängliche und Vergemeinschaftung bei Konzert und Tanz ermöglichende Klangwelt gegenübergestellt werde (vgl. S. 280-285). Hier schließt sich nun die Argumentation zur Bestimmung des Wechselspiels zwischen Musik und Stadt: Die musikalisch-urbane Atmosphäre ermöglicht es für Friedrich den Hörern, die Stadt in idealisierter Weise zu imaginieren und sich selbst zu ihr in Beziehung zu setzen (vgl. S. 291).

Bei der Entwicklung dieser ausführlichen theoretischen Überlegungen diskutiert Friedrich einen breiten Korpus an Literatur aus den verschiedensten einschlägigen Disziplinen. Seine Arbeit unterbreitet eine Reihe an theoretischen Ansatzpunkten, die vor allem für Rezipienten aus dem musikwissenschaftlichen Kontext viele in der eigenen Disziplin bislang wenig beachtete Ansätze referiert. Auch setzt er wichtige Arbeiten aus den verschiedensten Richtungen der Musik- und Stadtforschung in kreativer Weise zueinander in Beziehung. Aus dem Bereich der Musikwissenschaft kommen nicht nur die Klassiker wie Adorno zur Sprache, sondern er greift mit Peter Wicke, Simon Frith, Tia DeNora und anderen ebenso auf wesentliche Autoren der aktuellen internationalen Forschungslandschaft zurück. Nicht zuletzt, da es sich bei Friedrich um einen ausgebildeten Soziologen handelt, ist diese 'Außenwirkung' der Musikwissenschaft eine äußerst erfreuliche Nachricht wider einer häufig beklagten fachlichen Isolierung der Musikforschung.

Auch auf dem Feld der Stadtsoziologie diskutiert der Autor die wesentlichen Entwicklungen der gegenwärtigen Forschung und greift mit Henri Lefebvre mehrmals einen Klassiker der Disziplin auf, dessen Wirken auch heute noch in vielfacher Hinsicht Inspiration für neue Ansätze bietet.

Friedrichs Konzeption von (populärer) Musik als idealisierte urbane Atmosphäre, mit deren Hilfe Personen sich und die Stadt imaginieren, bietet wertvolle Anknüpfungspunkte zukünftiger Forschung. Die Arbeit von Autoren wie Frith oder DeNora zur Identität stiftenden Funktion von Musik auf die musikalische Stadtforschung zu beziehen, ist ein wichtiger Beitrag zur Forschung. Ein möglicher Weg, um von hier aus weiter zu denken, könnte in einer verstärkten Hinwendung zur performativen Praxis musikalischer Bedeutungsgenerierung im urbanen Raum liegen. In der von Friedrich herangezogenen Literatur finden sich hierfür gleich mehrfach mögliche Anschlussmöglichkeiten. So spielen Performance-Aspekte in den Überlegungen von Frith und DeNora eine zentrale Rolle und auch in Lefebvres Theorie der sozialen Produktion des Raumes ist die kulturelle und soziale Praxis notwendiger Bestandteil des Prozesses zur Entstehung sozialer (urbaner) Räume.2

Eine Sichtweise, die performative Bedeutungserzeugung in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt, könnte auch helfen, einer Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, der man in Urbane Klänge an manchen Stellen begegnet und welche mit dem Begriff der Repräsentation und dessen Subtext starrer Signifikationsbeziehungen zusammenhängt. Wenn Friedrich unter Verwendung des Konzepts "struktureller Isomorphie" davon ausgeht, Punk, HipHop und Techno könnten in besonderer Weise mit der gegenwärtigen Urbanität in Verbindung gebracht werden, da sie gewisse strukturelle Merkmale zeitgenössischer Städte teilten, so könnte dadurch der Eindruck entstehen, diese Verbindung werde absolut gesetzt. Zwar geht der Autor, wie dargestellt, nicht von einer direkten Abbildung der Stadt durch die Musik aus, doch stellt sich vor dem Hintergrund der Arbeit Ecos3 oder auch aktuellerer Literatur aus dem Kontext kulturwissenschaftlicher Theoriebildung4, welche die Kontext- und Praxisabhängigkeit kultureller Bedeutungszuschreibungen betonen, die Frage, ob es sich bei den von Friedrich postulierten Ähnlichkeiten zwischen Stadt und Musik nicht um Effekte bestimmter moderner wie postmoderner Diskurse handelt, welche Musik und Stadt erst diese Eigenschaften (Geräuschhaftigkeit/Lärm und Überlagerung auditiver Schichten) zuschreiben. So gesehen, könnte also auch jede andere Musik abhängig von diskursiven Kontexten mit bestimmten Attributen von 'Urbanität' belegt werden. Auch im Rahmen einer solchen Herangehensweise kann Friedrichs Konzept urbaner Atmosphären von Musik als wichtige analytische Kategorie dienen. Anstatt aber unter Zuhilfenahme der Idee von Repräsentation durch strukturelle Isomorphie nach direkten Belegen für Beziehungen zwischen Stadt und Musik nachzuspüren, ließen sich mithilfe diskursanalytischer Verfahren urbane Zuschreibungen an bestimmte musikalische Phänomene identifizieren und deren performative Umsetzung mit aufführungsanalytischen Zugriffsweisen auf konkrete Fallbeispiele untersuchen.5 Auch so könnten musikalische Phänomene auf ihre diskursiv und performativ erzeugten und somit kontext- und kulturabhängigen, urbanen Atmosphären hin analysiert werden.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Arbeit von Friedrich einen bedeutenden Beitrag zum Themengebiet "Musik und Urbanität" darstellt. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die sich in die relevante Theoriebildung zur kulturwissenschaftlich orientierten Stadtforschung einlesen wollen. Für zukünftige Arbeiten auf dem Gebiet der musikalischen Stadtforschung stellt es damit einen hervorragenden Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen sowie ein spannendes Objekt der Auseinandersetzung dar.

 


1 Beispiele für Beiträge der letzten Jahre hierfür sind: Michael Bull, Sounding out the City. Personal Stereos and the Management of Everyday Life, Oxford 2000; Michael Bull, Sound Moves. IPod Culture and the Urban Experience, London 2007; Sara Cohen, Decline, Renewal and the City in Popular Music Culture. Beyond the Beatles, Burlington 2007; Cultural Diversity in the Urban Area. Explorations in Urban Ethnomusicology, hrg. von Ursula Hemetek und Adelaida Reyes, Wien 2007; Sound and the City. Populäre Musik im urbanen Kontext, hrg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2007; Musik und Urbanität, hrg. von Christian Kaden und Volker Kalisch, Essen 2002; Sebastian Klotz, "'Negotiate, Review the Situation'. Musik und Urbanismus", in: Soziale Horizonte von Musik. Ein kommentiertes Lesebuch zur Musiksoziologie, hrg. von Christian Kaden und Karsten Mackensen, Kassel u. a. 2006, S. 324–346; Adam Krims, Music and Urban Geography, New York u. a. 2007.

2 Siehe hierzu u. a.: Simon Frith, Performing Rites. On the Value of Popular Music, Cambridge, Mass. 1998; Tia DeNora, Music in Everyday Life, 6. Auflage, Cambridge, New York u. a. 2007; Henri Lefebvre, The Production of Space, Malden, Mass. 2008; Christian Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart 2005.

3 Vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, 9. Auflage, München 2002.

4 Vgl. hierzu zum Überblick: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Aufl., Reinbek 2007.

5 Für erste Entwürfe eines solchen Forschungsansatzes siehe: Dominic Larue, "Musik, Stadt, Performance: Überlegungen zu einem aufführungstheoretischen Zugang zur 'Urban Musicology'", eingereicht zur Veröffentlichung im Tagungsband zum 23. Internationalen studentischen Symposium des DVSM, Wien 2009.