Saskia Woyke bearbeitet ihr DFG-Projekt "Singstimmen in Italien von 1600 bis 1750" an der Universität Bayreuth im Forschungsschwerpunkt "Musik. Stimme. Geschlecht" und verfasst in diesem Zusammenhang ihre Habilitation.

Issue 3

On Wagner

May 2012

ISSN 2191-253X

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Zur so genannten gegengeschlechtlichen Besetzungspraxis. Nebst einer Besprechung der aktuellen Publikationen von Knaus sowie Beghelli und Talmelli

von Saskia Maria Woyke

Zur so genannten gegengeschlechtlichen Besetzungspraxis. Nebst einer Besprechung von Kordula Knaus, Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender casting in der Oper 1600 bis 1800, Stuttgart 2011 und Marco Beghelli und Raffaele Talmelli, Ermafrodite armoniche. Il contralto nell'Ottocento, Varese 2011.

 

Einleitung

Das Thema der Singstimmen beschäftigt die Musikwissenschaft spätestens seit dem so genannten "performative turn" der Geisteswissenschaften vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten intensiver denn je. Positiverweise aber verlagert sich das Interesse auf die Stimmen, die Vokalprofile selbst, in Verbindung mit den Rollenprofilen, ebenso wie auf die Frage der Geschlechterbilder, die in ihnen übertragen werden, statt in vornehmlich biographisch orientierten Angaben über die Sängerinnen und Sänger zu verharren.

Diese eher späte Entwicklung hat mit der Schwierigkeit der allgemeinen wie wissenschaftlichen Beschreibung einer aufgezeichneten oder gar verklungenen Stimme zu tun.1 Gleichzeitig sind die Geschlechterdiskurse im Umfeld der Stimmaufführungen verschiedener Epochen, Jahrzehnte und Orte, jedenfalls bis ca. 1750 trotz bemerkenswerter Ansätze seitens der Geschlechterforschung noch nicht gänzlich aufgearbeitet, was zur Folge hat, dass die Stimmforschung, die die Kategorie des Geschlechts einbeziehen will, hier oft nicht nur mit einer, sondern zwei nahezu Unbekannten operieren muss. Eine Aufzählung der entsprechenden neuesten Literatur zum Thema wird im Folgenden unterlassen, würde sie doch den Raum überschreiten oder aber als exemplarische Auswahl Wertvolles auslassen.

Stattdessen soll die Aufmerksamkeit auf den Status quo der Musikwissenschaft beziehungsweise Musiktheaterwissenschaft im angesprochenen Bereich gelenkt werden, insbesondere auf mehrere soeben publizierte oder vor der Veröffentlichung stehende Forschungsergebnisse in italienischer und deutscher Sprache (die Aktivität der amerikanischen Forschung mit ihren wichtigen Ergebnissen in den letzten Jahren, insbesondere durch Martha Feldman, Wendy Heller, Roger Freitas und Beth und Jonathan Glixon, daneben auch der Queer studies, ist im deutschsprachigen Raum vergleichsweise bekannt).

An Monographien sind insbesondere die im folgenden besprochenen von Kordula Knaus und Marco Beghelli, die Ende 2011 herausgekommen sind, zu nennen. Eine Monographie von Corinna Herr ist angekündigt, eine von mir in Vorbereitung. Hinzu kommt eine soeben erschienene Veröffentlichung der Theaterwissenschaft von Anke Charton.2 Ansonsten widmen sich zahlreiche Forschungsprojekte der Frage des Stimmlichen; um nur einige Beispiele zu nennen, der "Lessico italiano del canto", der auf Sergio Durante zurückgeht und unter Leonella Caprioli zur Veröffentlichung vorbereitet wird, das unter Leitung von Marco Beghelli stehende, vor nicht langer Zeit gegründete "Archivio del Canto" in Bologna, das Weimarer Projekt "Psalmvertonungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Italien" (Leitung: Helen Geyer), das voraussichtlich wertvolle Informationen über Vokalprofile venezianischer Sängerinnen der Hospitäler bereitstellen wird, ebenso wie das Institut für Musikermedizin Freiburg, das den Versuch einer Rekonstruktion der Kastratenstimme mit elektronischen Mitteln unternahm, indem es unter anderem eine Knabenstimme und den Ansatzraums eines Baritons und eines Tenors kombinierte (Bernhard Richter, Ann-Christin Mecke), die Hochschule für Musik Freiburg, die eine mehrbändige Publikation zum Gesang vorbereitet (Leitung: Thomas Seedorf) und das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth (mit dem Projektbündel "Musik-Stimme-Geschlecht"). Darüber hinaus ist von einer nicht geringen Anzahl von im Entstehen begriffenen Dissertationen, die dezidiert das Stimmliche unterschiedlicher Epochen einbeziehen, auszugehen.

Wie aber sieht der Status quo der Informationen zu Sängerinnen und Sängern, ihrem Auftreten in Männer- und Frauenrollen, sowie des möglichen Erbes ihrer stimmlichen Eigenschaften bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein aus? Und wie angemessen sind Bezeichnungen wie "männlich", "weiblich", "hermaphroditisch" und – nicht zuletzt – "gegengeschlechtlich" für die untersuchten Zeiträume?

Im Folgenden wird, um diese Fragen zu beantworten, mit statistischen Angaben zu den Sängerinnen und Sängern der Opera seria bis ca. 1750 begonnen, bevor die Perspektive auf den Zeitraum von 1600 bis 1800 geweitet wird. Das erste geschieht anhand des Einbezugs zweier Aufsätze der Autorin, die Weitung anhand der Besprechung des Buches von Kordula Knaus (Männer als Ammen […]). Zuletzt wird in Form einer Rezension des Buches von Marco Beghelli (Ermafrodite armoniche) der Zeitraum von 1800 bis 1920 angesprochen. Dabei trägt Beghelli zusätzlich mit zwei Einspielungen von 1997 und 1999 zu den regelmäßig aufkommenden Hypothesen einer Kastratenstimme noch im späten 20. Jahrhundert ebenso wie zu Fragen heutiger Besetzungspraxis des meistgespielten Repertoires von Mozart über Rossini bis Verdi bei.

 

"Gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis gesamtitalienisch, in Venedig und bei Johann Adolf Hasse für den Zeitraum 1600–1750

Im Folgenden wird von "Sängerinnen" und "Sängern" im Rekurs auf den zivilrechtlich festgelegten Status ihrer Geburt gesprochen. Bei der Mehrzahl der in diesem Sinn männlichen Sänger auf italienischen Opernbühnen zwischen 1637 und 1750 handelte es sich um Kastraten. Dies ist angesichts der Gesamtheit der überlieferten Quellen wahrscheinlich. Zumindest die Mehrzahl der erhaltenen Solopartien liegt in ihrer musikalischen Textur über der Tenorstimme. Die vergleichsweise hohe Stimme war also ein Ideal, das aus heutiger Perspektive auf die Frage der "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxis verweist.

Der Definition "gegengeschlechtlich" muss aber, streng betrachtet, die Überzeugung vorausgehen, dass Kastraten in der Perspektive des Sei- und frühen Settecento als Männer wahrgenommen wurden oder als solche auf der Bühne wahrgenommen werden konnten. Dies aber wurde von der Kastratenforschung bis heute kontrovers beantwortet, nicht zuletzt auch in Verbindung mit den Stadien der Befestigung einzelner Forschungsrichtungen (Gender studies, Queer studies, Männerforschung, Frauenforschung). Es sei angedeutet, dass nach einer Phase der ausschließlichen Betonung des Männlichen und Weiblichen zu gleichen Teilen, mithin des Hermaphroditen im einfachsten Sinne,3 der Postulierung eines "dritten Geschlechts", nach einer Annahme der Ambiguität auf mehreren Ebenen,4 nach einer Annahme des Männlichen,5 der Vermischung von Mann, Frau und Kind6 zuletzt die Überzeugung des Männlichen mit großen Anteilen des Weiblichen vorgeschlagen wurde. Letzteres wurde als Reaktion auf Gesetze zur Sodomie einerseits und Vorstellungen der Pubertät andererseits, die in männlichen Heranwachsenden Anteile des zu überwindenden Weiblichen angenommen hätten, gedeutet.7 

Gleichzeitig besteht die Annahme von Kastraten als "Hermaphroditen" ("castrati-ermafroditi"), "Männer-Frauen" ("uomini-donna")8 oder als "nicht vollwertige Männer", die "vollwertige Männer" darstellen konnten,9 weiter fort. Letzteres aber würde die "gegengeschlechtliche Besetzungspraxis" ausschließen – denn was wäre das "Gegengeschlecht" zum "dritten Geschlecht"? Auf die Problematik der Bezeichnung "gegengeschlechtlich" (die freilich aus einem bewusst 'kleinlichen' Blick heraus resultiert, um weitere Fragen befördern zu können) werden wir noch mit anderen Begründungen zurückkommen. Vor allem aber, und dies ist ein weiteres Problem, wurde die Untersuchung der Übertragung solcher Wahrnehmungen des Körpers der Kastraten und der Frauen in die Wahrnehmung ihrer Singstimme und ihres Körpers auf der Bühne für die Hörerinnen und Hörer, zumindest für die Zeit bis 1750, nur unscharf vorgenommen und nicht anhand der örtlich und zeitlich differierenden Stimmbeschreibungen hinterfragt.

Nun seien einige statistische Anmerkungen angeführt, in denen Kastraten im Rückgriff auf ihren zivilrechtlichen Status bei ihrer Geburt in die Gruppe der "Sänger" eingeschlossen werden, und zwar anhand einer Analyse der überlieferten Besetzungslisten nach Claudio Sartori.10 Es handelt sich bei Sartori um die beste vorhandene, wenngleich nicht hundertprozentig zuverlässige Quellenbasis, weshalb die Ergebnisse als indikativ und nicht absolut zu bewerten sind.

Die Analyse ergibt 464 Sängerinnen und Sänger, die ihre Karriere zwischen 1698 und 1735 in Italien begonnen haben und die in mindestens 10 verschiedenen Librettodrucken verzeichnet sind, also einen beachtlichen Karriereverlauf aufwiesen.11 Von diesen waren 239 männlich und 225 weiblich. Damit ist das Vorurteil einer großen Vorherrschaft von Kastraten und Männern auf den italienischen Bühnen für diese Zeit zumindest in quantitativer Hinsicht widerlegt. Dies werde ich, ebenso wie die im folgenden angesprochene "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis, an zwei Beispielen, nämlich der Stadt Venedig und den Opern Johann Adolf Hasses, weiter belegen. Eine ähnliche quantitative Gleichberechtigung ist für das Seicento aus der Gesamtheit der überlieferten Verträge, Abrechnungen, Korrespondenzen und Akten für öffentliche, höfische und gemischte Opernbühnen, für Kirchen, Klöster und vergleichbare Einrichtungen anzunehmen (beispielsweise dem Nachlass des Impresarios Marco Faustini oder den Akten der venezianischen Hospitäler, beide im Staatsarchiv Venedig).

Die hohe Anzahl an singenden, für die mehr oder weniger beschränkte Öffentlichkeit auch hörbaren Frauen in Klöstern und Hospitälern, nicht nur in Venedig, sondern überall in Italien (außer vielleicht in Rom; hier hat die Autorin noch keine Kenntnis) wurde gerade in letzter Zeit hervorgehoben, etwa in San Vito in Ferrara, Santa Radegonda in Mailand, in den Klöstern in Genua und Neapel. Dies wurde bereits durch die von Gino Stefani wiedergegebenen Stimmbeschreibungen, wenngleich diese größtenteils aus der Zeit der Jahrhundertwende um 1600 stammen, sichtbar und wird durch Neueinspielungen entsprechenden Repertoires immer bekannter. Ähnliches gilt für Einspielungen von Gesangspartien von im kirchlichen Dienst beschäftigten Kastraten.12

Selbst bei Ausdehnung auf den geistlichen Bereich und das Seicento muss also noch, jedenfalls statistisch gesamtitalienisch gesehen, von einer quantitativen Gleichberechtigung von Männer- (überwiegend Kastraten-) und Frauenstimmen gesprochen werden. Tabellen, die die Karriereverläufe der 464 Sängerinnen und Sänger nach den Jahreszahlen und der Gesamtjahre ihrer Karriere, der von ihnen gesungenen Anzahl von Rollen verschiedenen Musiktheaters (in der Mehrheit "drammi per musica" und "intermezzi") und der Zahl der Männer- und Frauenrollen absolut und in bestimmten Städten und damit die "gegengeschlechtliche Besetzungspraxis" auf¬zeichnen, geben genauen Aufschluss in Bezug auf die Dauer, die Leistungen und den Einsatz der/des Einzelnen in verschiedenen Städten, Orten und Opern im Verlauf ihrer SängerInnenkarrieren.

Darüber hinaus ergeben sich gerade auch innerhalb der Vorliebe für über dem Tenor liegende Stimmen und der Besetzungspraxis mit Sängerinnen und Sängern erhebliche örtliche Unterschiede, die über das Verbot von Sängerinnen in Rom hinausgingen. Letzteres wurde mehrfach übergangen, etwa während der Anwesenheit Christinas von Schweden. Und es ist auch überhaupt fragwürdig, weil ‒ wie die Korrespondenzen von Impresarios mit Sängerinnen zeigen ‒ eine große Anzahl von Sängerinnen offenbar gerade in Rom ausgebildet (und daher mit "La Romanina" bezeichnet) wurde, da Sängerinnen überaus häufig aus Rom anreisen mussten. Noch genauer zu bearbeiten wäre auch die Frage des Gesangs in Rom seitens der gebildeteren Prostituierten (auch wenn das diesbezügliche "goldene" Cinquecento in Rom im Seicento bereits Vergangenheit war; zu Venedig wurden hier bereits Ansätze unternommen13). Im Folgenden sei beispielhaft der Blick auf jene Sängerinnen und Sänger, die im Verlauf ihrer Karriere auch in Venedig tätig waren, gerichtet. Von den beschriebenen 464 Gesangskräften waren 256, also 55 %, und zwar 119 Sängerinnen und 137 Sänger, in Venedig tätig. Venedig stellte demnach eine bedeutende Station der Karriere der Hälfte der Sängerinnen und Sänger dar.

Das scheinbare Gleichgewicht von Sängerinnen und Sängern wurde nicht nur durch die durchschnittlich kürzeren Karrieren der Frauen (20,8 Jahre; Männer: 25,5 Jahre) unterlaufen, sondern auch durch die Art der Rollen, die die Frauen im Verlauf ihrer Karriere sangen: die "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis. Von den 137 Männern sangen nur 52, also 38 %, im Verlauf ihrer Karriere überhaupt je eine Frauenrolle. Bei 47 von ihnen überstieg der Anteil an Frauenrollen nie 25 %, und in vielen Fällen betrug er weniger als 14 %. In absoluten Zahlen: 36 Sänger sangen höchstens fünf Frauenrollen, 16 höchstens zwei. 85 sangen im Verlauf ihrer Karriere überhaupt keine Frauenrolle.

Von den 119 Frauen dagegen sangen 89, also 75 %, in ihrer Karriere auch Männerrollen. Unter diesen sangen 23 zu mehr als der Hälfte ihres Repertoires Männerrollen und 58, also 65 %, ein Repertoire, das zu mehr als einem Fünftel Männerrollen einschloss. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Mehrheit jener Sänger, darunter vor allem Kastraten, genau 62 %, die auch in Venedig tätig waren und die eine beachtliche Karriere im angegebenen, für die Opera seria wichtigsten Zeitraum machten, sang nie eine Frauenrolle. Umgekehrt sangen nur 25 % der Frauen gleicher Kriterien in ihrer Karriere nie eine Männerrolle. Weit mehr Sängerinnen versahen demnach Männerrollen als Sänger Frauenrollen. Dies bedeutet, dass die "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis im untersuchten Zeitraum vor allem eine Frage der Frauen, die Männerrollen versahen, war.

Noch interessanter aber ist, dass viele von den auch Männerrollen versehenden Sängerinnen in Venedig ausschließlich für Frauenrollen engagiert wurden. Noch auffälliger ist es, dass lediglich fünf der 52 auch in Venedig engagierten Sänger, die in ihrer Karriere auch Frauenrollen sangen, für eine Frauenrolle nach Venedig verpflichtet wurden.

Was die Sängerinnen betraf, so ist Giacomina Ferrari Alberti ein gutes Beispiel. Sie sang in ihrer Karriere 60 Rollen, davon 36 männliche und 24 weibliche. Die einzige Rolle, für die sie in Venedig verpflichtet wurde, war eine Frauenrolle. Andererseits gab es auch Ausnahmen: Margherita Durastanti, die vor allem für ihr Engagement durch Händel in London bekannt ist, sang 56 Opern, darunter neun in Venedig. Ihr Repertoire umfasst 20 Männerrollen, und von ihren acht in Venedig gesungenen Rollen waren sechs Männerrollen. Man denke auch an Faustina Bordoni, die in ihren mindestens 89 Rollen nur zwei Männerrollen sang, und zwar beide in Venedig, oder an Magherita Flora aus Venedig, von 1727 bis 1749 in 48 Opern beschäftigt, wovon 21 Männerrollen waren, und die in Venedig ausschließlich Männerrollen sang.

In einem Satz: Gesamtitalienisch sangen unter jenen Sängern und Sängerinnen, die auch in Venedig tätig waren, mehr Frauen Männerrollen als Männer Frauenrollen, speziell auf Venedig bezogen wurden Frauen vorwiegend in Frauenrollen und Männer vorwiegend in Männerrollen engagiert.

Um einige Namen zu nennen: Die Rollen, die von Giovanni Ossi, Schüler Francesco Gasparinis, versehen wurden, waren zur Hälfte Frauenrollen. Bevor er in Venedig verpflichtet wurde, waren die 34 Partien, die er in einem Zeitraum von sieben Jahren in Rom gesungen hatte, ausnahmslos Frauenrollen gewesen. In Venedig aber führte er seine Rolle ausschließlich mit Männerrollen fort, und seine folgenden Verpflichtungen in Rom schlossen nun nicht nur Frauenrollen, sondern auch Männerrollen ein. So waren 46 % der von Domenico Tollini versehenen Rollen Frauenrollen. Nachdem er in Venedig vier Männerrollen versehen hatte, wechselte er mit Frauenrollen nach Rom, versah aber weiterhin Männerrollen in Venedig.

Überhaupt waren, sogar gesamtitalienisch gesehen, nur wenige Kastraten und andere Sänger authentische Spezialisten für Frauenrollen. In der Mehrheit bekleideten sie lediglich zu Beginn ihrer Laufbahn eine Frauenrolle, was einem Initiationsritus entsprach (dies ist übrigens anhand zeitgenössischer Traktate zu Frauen und Männern leicht begründbar). Unter den 239 gesamtitalienisch berühmteren Sängern mit Karrierebeginn zwischen 1698 und 1735 versahen lediglich 32 Sänger auch Frauenrollen, und lediglich fünf von diesen können als wahre Spezialisten derselben angesehen werden. Von diesen fünf sangen lediglich zwei mehr als 30 Frauenrollen, und weitere zwei mehr als 10. In anderen Zahlen: Die Frauenrollen machten nur für drei Sänger mehr als 70 % ihres Repertoires aus, und nur für weitere drei zwischen 51 und 69 %. Der berühmteste war Giacinto Fontana detto Farfallino (etwa: kleiner Schmetterling) aus Perugia, der 37 Rollen, alles Frauenrollen, sang, und zwar ausschließlich in Rom (dessen Vokal- und Rollenprofile Kordula Knaus analysiert) (S. 130–135). Zu erwähnen wäre auch Antonio Predieri aus Bologna, der 51 Rollen sang, davon 42 Frauenrollen. Die Zahlen zeigen, dass die Häufigkeit der "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxis im Sinn des Bekleidens von Frauenrollen durch Kastraten in der Forschung überschätzt worden ist.

Diese Beobachtungen werden interessanterweise anhand der Sängerinnen und Sänger, die Johann Adolf Hasse zwischen 1726 und 1732 für die Erstaufführungen seiner Opern in Neapel, Rom, Venedig und Dresden zur Verfügung standen, bestätigt. Johann Adolf Hasse war, jedenfalls ab etwa 1730, ein Star, der in Europa und vor allem Italien meistgespielte Komponist unter jenen der Opera seria, mit der in den 1720er Jahren "als erste Sängerin Europas" bezeichneten Faustina Bordoni verheiratet und bildete, wie man heute sagen würde, ein Arbeitsteam mit dem Librettisten Pietro Metastasio, ebenso wie mit zahlreichen berühmten Sängerinnen und Sängern, darunter Carlo Broschi detto Farinelli. Einbezogen wurden die Sängerinnen und Sänger der Erstaufführungen der Opern Il Sesostrate (Neapel 1726), Astarto (Neapel 1726), Gerone tiranno di Siracusa (Neapel 1727), Attalo Re di Bitinia (Neapel 1728), Il Tigrane (Neapel 1729), Dalisa (Venedig 1730), Artaserse (Venedig 1730), Ezio (Neapel 1730), Arminio (Mailand 1730), Catone in Utica (Turin 1731), Cleofide (Dresden 1731), Il Demetrio (Venedig 1731), Caio Fabrizio (Rom 1732), Euristeo (Venedig 1732) und Issipile (Neapel 1732). Dies waren "drammi per musica", die an den angesehensten und zumindest in ihrer Außendarstellung besonders finanzkräftigen Opernhäusern Italiens aufgeführt wurden und die, so darf man vermuten, eine Sängerbesetzung beschäftigen konnten, die einer in der Sicht der Zeit idealen vergleichsweise nahe kam.

In diesen Opern waren 61 Sängerinnen und Sänger beschäftigt, davon einige mehrmals. Von diesen waren 31 männlich und 29 weiblich, ein Verhältnis, das fast genau dem der in Venedig beschäftigten Sängerinnen und Sänger der ersten Hälfte des Settecento (siehe obige Definition; 137 zu 119) entspricht. Von den insgesamt 94 verschiedenen Rollen wurden lediglich acht "gegengeschlechtlich" besetzt. Zwischen 1726 und 1732 verkörperten bei Hasse lediglich zweimal Männer Frauenpartien, die beide auf den römischen Caio Fabrizio fallen, aber sechs Frauen Männerpartien. Überdies ist das "cross-dressing" mit Ausnahme von Caio Fabrizio auffällig gleichmäßig auf verschiedene Opern verteilt: Männer in Frauenrollen sind Angelo Maria Monticelli als Sestia und Felice Salimbeni als Bircenna, beide in Caio Fabrizio. Dem stehen Anna Bagnolesi als Lisarco in Gerone Tiranno di Siracusa, Giacomina Ferrari als Farnace in Attalo Re di Bitinia, Livia Basi als Oronte in Il Tigrane, Elisabetta Uttini als Valentiniano III in Ezio und Luisa Facchinelli als Giasone in Issipile gegenüber.

Jedoch ist bei den Kastraten und Tenören Hasses eine ganz leichte Neigung hin zu solchen, die auch Frauenrollen verkörpert hatten, zu bemerken, denn 18 von den insgesamt 32 sangen auch Frauenrollen in ihrer Laufbahn. Von diesen überschritten jedoch nur fünf Sänger 10 % an Frauenrollen. Die Sängerinnen Hasses entsprachen dagegen voll und ganz dem gesamtitalienischen Durchschnitt: Immerhin sieben von ihnen sangen in mindestens der Hälfte des Repertoires auch Frauenrollen, und zwei waren diesbezüglich sogar Spezialistinnen (Caterina Giorgi mit 84 % und Elisabetta Uttini mit 85 %).

Soweit einige statistische Angaben zu jenen Sängern und Sängerinnen der Opera seria in Italien, die zwischen 1698 und 1735 begonnen hatten und zu den erfolgreichsten gehörten, sowie jenen in Venedig und den Opern Johann Adolf Hasses. Damit ist bereits festzuhalten, dass quantitativ zwischen etwa 1690 und 1750 von einer Gleichberechtigung von Kastraten/Männern und Frauen auf der Opernbühne gesprochen werden muss, dieser aber keine qualitative Gleichberechtigung der versehenen Rollen gegenüberstand. Gleichzeitig ist zu betonen, dass die "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis seitens der Forschung in Bezug auf Kastraten überschätzt worden ist, sie dagegen sehr viel häufiger von Frauen in Männerrollen versehen wurde und sie im übrigen örtlich und zeitlich stark differierte. Nicht nur hierzu gibt das Buch von Kordula Knaus, dies sei an dieser Stelle vorweggenommen, vorzüglichen Aufschluss.

 

Kordula Knaus: Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender casting in der Oper 1600 bis 1800, Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag 2011 (Beihefte für Musikwissenschaft 69)

Es handelt sich um die erste detaillierte Übersicht zur "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxis der italienischen Oper (venezianische Oper des Seicento, Opera seria, Intermezzo, Opera buffa) über fast zwei Jahrhunderte hinweg. Dies gilt umso mehr, als auch entsprechende Traditionen in Schauspielen, Commedia dell'arte und französischem Theater herangezogen und deren Wechselwirkungen innerhalb verschiedener Gattungen des Musiktheaters aufgezeigt werden.

Der Titel suggeriert einen gesamteuropäischen Untersuchungszeitraum von 1600 bis 1800. Jedoch enthält die Publikation nur wenige Informationen über die Zeit nach 1760 und noch seltenere für die Zeit von 1775 bis 1800. Zwar bedeutet dies, dass Opern wie etwa jene von Wolfgang Amadeus Mozart in Wien ebenso ausgeklammert werden wie jene am Ende des Settecento in Neapel, ebenso wie eine genauere Bezugnahme auf das "offizielle" Ende der Kastratenära 1797 mit möglichen Auswirkungen in der "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxis nicht angesprochen wird. Doch gerade diese Beschränkung, die genaue Auswahl der besprochenen Einzelthemen bedingt die hohe Qualität von Knaus' Publikation und die Stringenz ihrer Argumentation. Überdies findet der interessierte Leser detaillierte Informationen zum Ende des 18. Jahrhunderts in Italien im Buch Marco Beghellis, das damit eine ideale Ergänzung darstellt.

Ferner bestätigen die Ergebnisse von Knaus die der oben ausgeführten Statistiken nach Sartori. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil Knaus keine statistische Untersuchung der Gesamtheit der Sängerinnen und Sänger Italiens in "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxen als Grundlage ihres Buches vornahm, sondern sich ausschließlich auf eng mit der Praxis von Gesangsaufführungen in Verbindung stehende, größtenteils bereits publizierte Quellen wie Stimm- und Rollenbeschreibungen, Partituren und Abbildungen konzentriert, die sie bewertet und mit aus der Sekundärliteratur hervorgehenden Geschlechter- und Körperdiskursen verbindet, sie demnach auf eine grundlegend andere Quellenbasis als eine statistische oder noch zu erschließende rekurriert. Damit ist Knaus' Arbeit eine Bestätigung dafür, dass auch so die der behandelten Zeit angemessenen, in den Grundaussagen übereinstimmenden Ergebnisse erzielt werden können – einerseits über eine statistische Methode, andererseits über eine, die auf hermeneutischer Philologie basiert. Dabei ist der sehr genaue Blick, wie ihn Knaus besitzt und anwendet, Voraussetzung. Mehr noch: Knauss gelingt es, vieles zu klären, was in statistischen Angaben wie den obigen zwangsläufig verschwindet und daher sehr zu verfehlten Schlussfolgerungen führen könnte.

Die Zusammenfassung der entsprechenden Besetzungspraxen über viele Jahrzehnte hinweg war nicht nur aufgrund der nahezu unübersehbaren Anzahl von Musiktheateraufführungen zwischen 1600 und 1800, die gleichwohl eine in vielen Aspekten eingeschränkte und problematische Quellenbasis zur Folge hat, eine anspruchsvolle Aufgabe, sondern auch aufgrund der notwendigen Gradwanderung zwischen lokaler und allgemeiner Musiktheatergeschichte, zwischen "Makro- und Mikroperspektive" (S. 29). "Gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis sei, so Knauss' Einschätzung, "gleichermaßen gewöhnlich wie ungewöhnlich" gewesen (S. 6), beziehungsweise sie sei "in den ersten beiden Jahrhunderten der Operngeschichte von einem quantitativen Ausmaß geprägt, mit dem selbst das gegenwärtige experimentelle Musiktheater mit all seinen postmodernen geschlechtlichen Spielvarianten kaum konkurrieren kann" (S. 232).

Die leserfreundliche, klare Gliederung, mit der diese Aussagen differenziert werden, erlaubt es, sowohl jenen Leser zufriedenzustellen, der sich über einzelne Phänomene des so genannten "cross-dressings" informieren möchte, als aus jenen, der sich für den Gesamtzusammenhang interessiert. Zu ersteren gehören der Beginn der Besetzung von Männerrollen durch Frauen in der Oper, die Figur der Alten Amme, die Kastraten in Frauenrollen an römischen Theatern, die "innamorati" der neapolitanischen "Commedia per musica", die "vecchie" im 18. Jahrhundert und die "Pagen, Knaben und Diener", also Hosenrollen. Eine glückliche Entscheidung der Autorin ist es, Rollen, in denen die Darsteller sich kurzzeitig als das andere Geschlecht verkleiden, auszuschließen, was der Stringenz des Buches sehr zugutekommt. Befördert wird das Leseerlebnis durch klare, entschiedene Formulierungen bei gleichzeitig großer Vorsicht der Aussagen, die die Ergebnisse absolut verlässlich werden lassen. Damit ist Knaus' Buch zuallererst eine wissenschaftliche Publikation, im Gegensatz zu jener Marco Beghellis, die sich trotz ebenfalls wissenschaftlicher Ausrichtung und ebenfalls großer Verlässlichkeit auch an ein weiteres Publikum wendet, was aber auch der größeren Bekanntheit des von ihm behandelten Repertoires geschuldet ist.

Knaus' Bewertung von Stimm- und Rollenbeschreibungen sowie das Einbeziehen von Gesangspartien, die für Sängerinnen und Sänger komponiert wurden, die sie in Rollen des anderen Geschlechts singen sollten, führt zu immer neuen Fragen und Antworten zur Wahrnehmung und Bedeutung von Geschlecht auf der Opernbühne. Die zahlreiche Fragen regen die Gedanken des Lesers ebenso an, wie sie ihn führen und bereichern. Dass nicht alle eingelöst werden, hat sowohl mit der Weite des Themas als auch mit der Einschränkung auf den Gesang und dem Theater nahestehende Quellen zu tun. So werden zeitgenössische Körper- und Geschlechterbilder und -diskurse (S. 22, S. 27) nur insoweit angesprochen, als sie aus einigen Beschreibungen "gegengeschlechtlicher" Besetzungspraxis hervorgehen. Darüber hinausgehende, aus Quellen außerhalb der Bühnenpraxis hervorgehende Präzisierungen fehlen bis auf wenige der Sekundärliteratur entnommene Hinweise. Dies ist aber nicht Knaus, sondern der noch nicht sehr fortgeschrittenen Aufarbeitung eben dieser Bilder und Diskurse in Italien zwischen 1600 und 1800 außerhalb der Musikwissenschaft geschuldet.

Bereits der Blick über den Forschungsstand ist aufschlussreich, der ausschließlich die neueste Sekundärliteratur einbezieht (S. 7–17). Dies ist gerade angesichts der generell hohen Anzahl von Publikationen zu Kastraten mit ihren meist das volle 20. Jahrhundert und oft noch das 19. Jahrhundert einbeziehenden Katalogen von Sekundär- und Primärliteratur wohltuend. Die verbreitete aktuelle Forschungsmeinung der "völligen Austauschbarkeit" von Stimm- und Geschlechtscharakteren innerhalb hoher Stimmen, beeinflusst durch Christopher Balmes damals die Forschung sehr positiv beförderndem Verweis auf das one-sex model nach Lacquer in Verbindung mit der Händel'schen Besetzungspraxis14 kann Knaus angesichts der Aussagen der Quellen zurückweisen und differenzieren. Daneben wendet sie sich gegen zahlreiche Vorurteile der Forschung, insbesondere in Bezug auf Männerrollen singende Frauen, wie jenem, wonach Händel Travestierollen eingeführt habe (S. 13),15 seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert an gegengeschlechtlicher Besetzungspraxis nur noch die Hosenrolle übergeblieben sei (ebd.)16 oder die erste echte Hosenrolle im Mozart'schen Cherubino bestanden habe (S. 14).17 Stattdessen seien, so Knaus, "die Anfänge der Hosenrolle […] völlig neu zu erzählen" (S. 15), zumal die auf Kastraten orientierte Forschung den Blick auf die generelle Besetzungspraxis im 17. und 18. Jahrhundert besonders in Bezug auf Sängerinnen verstellt habe (S. 10). Dies muss bestätigt werden, wurde doch oben statistisch gesamtitalienisch, am Beispiel Venedig wie am Beispiel des Sängerpersonals Johann Adolf Hasses festgestellt, dass die Mehrheit der Frauen Männerrollen sang, aber nur eine Minderheit der Männer/Kastraten Frauenrollen.

Für die Anfänge der Besetzung von Männerrollen mit Frauen zu Beginn des 17. Jahrhunderts, hier freilich meist im Schauspiel, weist Knaus anhand der genauen Befragung der Stimm- und Rollenbeschreibungen nach, dass weder eine "Austauschbarkeit von Geschlechtscharakteren noch die Begründung, hierbei käme das one-sex model zur Geltung, eine tragende Rolle spielten", da Sängerinnen einer anderen Wahrnehmung unterlegen hätten und es inhaltlich und ästhetisch immer entscheidend gewesen sei, ob eine männliche Rolle von einem Kastraten oder einem Tenor gesungen wurde. Seltene Ausnahmen für das frühe Seicento begründet Knaus auch aus theaterpraktischen Überlegungen heraus, wenn etwa Sängerinnen und Sänger verheiratet und innerhalb derselben Truppe tätig waren. Eine zeitgenössische Diskussion, ob Kastraten wegen ihres effeminierten Status' besonders gut geeignet gewesen seien, Frauenrollen zu spielen, habe erst dann stattfinden können, als Frauen tatsächlich zur ernsthaften Alternative geworden wären, also erst ab dem letzten Drittel des Settecento. Den Höhepunkt des Versehens von Männerrollen durch Frauen kann Knaus für den Zeitraum von 1690 bis 1750 verorten. Eine aufschlussreiche Analyse von 26 Libretti Metastasios und ihrer Besetzungen hinsichtlich der sozial-inhaltlich/dramaturgisch-musikalischen Ebene der ProtagonistInnen ergibt, "dass die Dichte an weiblichen Interpretinnen für männliche Rollen mit aufsteigendem sozialem Status abnimmt" (S. 100). Umgekehrt zeige sich eine absteigende Häufigkeit von Frauen in Männerrollen im Vergleich zur aufsteigenden Wertigkeit der Rollen. Dies ist ein Beweis der oben vermuteten geringeren Qualität der Mehrheit der von Frauen versehenen Rollen im Vergleich zu ihrer gleichberechtigten Quantität, selbst dann, wenn man hier nur die gegengeschlechtlich besetzten Partien betrachtet; dies gelingt nicht zuletzt, weil letztere, wie wir gesehen haben, einen Großteil des Repertoires der Sängerinnen ausmachten.

Ein Kapitel ist der "alten Amme", der "vecchia nutrice", gewidmet, die Knaus als literarische Fiktion benennt: Eine reale Amme, so Knaus, hätte im täglichen Leben mit Ehe und Mutterschaft in Verbindung stehen müssen. Sie weist ferner nach, dass die Forschungsmeinung, wonach die Amme aus der Commedia dell'arte übernommen worden sei, irrtümlich sei; ihre Herkunft kann sie im nicht-komischen französischen Sprechtheater verorten. Die alte Amme spiegele Körperdiskurse des 16. und 17. Jahrhunderts wieder, in denen ihre Weiblichkeit bewusst unterminiert werde. Daniel Schäfer habe auf Tendenzen verwiesen, alten Frauen mit der Menopause ein Ende ihrer weiblichen Biographie zu testieren, die auf Auffassungen der Humorallehre zurückzuführen seien (S. 75). Jedoch spricht Knaus nicht an, dass diese, wie ein Studium der entsprechenden medizinischen Traktate der Zeit beweist, je nach Ort, Zeit und Provenienz des Autors in Einzelheiten ganz unterschiedlich angenommen und bewertet wurde beziehungsweise welche Bewertung nun auf die Sängerinnen wann zu beziehen sei.

Zur Häufigkeit von Sängerinnen in Männerrollen in der Oper schreibt Knaus, bereits die ersten ab 1696 in Neapel gespielten Opern hätten mindestens eine Frau in einer Männerrolle aufgewiesen. Tendenziell seien die von Frauen gespielten Rollen jedoch sowohl in Neapel als auch in Venedig keine primo-uomo-Rollen gewesen, sondern secondo- und terzo-uomo-Rollen (S. 83). Daneben habe es Ausnahmen gegeben, in denen besonders herausragende Sängerinnen primo-uomo-Rollen interpretiert hätten (S. 83). In Neapel habe eine stärker ausgeprägte Konvention zur weiblich besetzten Männerrolle existiert als in Venedig. Knaus meint in Bezug auf Venedig, bis Mitte der 1720er Jahre hätte das Verhältnis von Opern, in denen Frauen herausragende Männerrollen sangen, etwa 50:50 betragen, danach seien in etwa zwei Drittel der überlieferten Besetzungslisten von "drammi per musica" Darstellerinnen von Männerrollen auffindbar. Um die Mitte der 1760er Jahre seien kaum mehr Frauen in Männerrollen in der Opera seria vorhanden (S. 83), weshalb von einem abrupten Ende dieser Besetzungskonvention zu sprechen sei (S. 85). Ähnliches weist Knaus für die komische Oper nach, die hier eine Anleihe bei der ernsten unternommen habe.

Doch warum, so die berechtigte Frage, habe man Frauen in Männerrollen auf der Bühne singen sehen wollen? In der differenzierten Beantwortung ist für Knaus die Meinung von Suzanne Crusick wichtig, die "mit Bezug auf die Humorallehre" von einer Sexualisierung des Singens von Frauen ausgegangen sei, und zwar dadurch, dass das Singen eine Hitze erzeuge, die dem üblicherweise kalt und feucht gedachten Körper der Frauen widersprochen hätte und so sexuelle Aktivität vermittelt habe (S. 91). Brillant ist auch die Schlussfolgerung, wonach, wenn die für die Opera seria des 18. Jahrhunderts postulierte These der Austauschbarkeit des Geschlechts zutreffe, es keine Entwicklung von Stereotypen für weiblich besetzte männliche oder männlich besetzte weibliche Rollen geben könne (S. 97). In Rom hätten sich verständlicherweise keine speziellen Typen oder Figuren eruieren lassen, die für gegengeschlechtliche Besetzungskonventionen prädestiniert gewesen seien.

Auch theaterpraktische Gründe wie eine besonders ausgeprägte Körpergröße oder wenig ansprechendes Aussehen prädestinierten nach Knaus Frauen, zumindest in einigen Fällen, zum Versehen von Männerrollen (S. 112), ebenso wie spezielle Fähigkeiten der Darstellung (S. 113), ferner stimmästhetische Präferenzen (S. 115). Letzteres möchte Knaus nur anhand eines nicht zu verallgemeinernden, da atypischen Fallbeispiels zeigen, jenem Vittoria Tesis, deren "kräftige" und "schwerfällige" Stimme in der Beschreibung durch Quantz "männlich konstruiert" worden sei, obwohl die Männerfiguren in der Oper solche Stimmen gar nicht gehabt hätten.

 

Insgesamt lässt sich […] feststellen, dass die Interpretin einer männlichen Rolle […] zwischen 1700 und 1760 zwar bestimmte körperliche, darstellerische und stimmliche Anforderungen mit sich bringen musste, diese sich aber nicht unmittelbar auf die Diskrepanz zwischen dem Geschlecht der Sängerin und dem dargestellten Geschlecht bezogen, sondern die Erfordernisse der Rollendarstellung generell spiegeln. […] Die soziale Distinktion war also in jedem Fall der geschlechtlichen Distinktion vorrangig […]. (S. 119)

Die Künstlichkeit der Gattung habe zur Akzeptanz von Frauen in Männerrollen beigetragen.

 

Die optischen und szenischen Anforderungen für Männerrollen waren Sängerinnen nicht prinzipiell zuträglich, auch wenn die im vorigen Kapitel erwähnten Aspekte von Schönheit und Erotisierung hier nicht gänzlich außer Acht gelassen dürfen. So spiegelt sich im Einsatz von Sängerinnen in männlichen Rollen ein Zusammenspiel mit stimmlichen und geschlechtlichen Hierarchisierungen wider, die aber nicht prinzipiell mit stimmlichen oder stimmästhetischen Kodierungen einhergingen. (S. 121)

Andererseits seien Frauen- und Kastratenstimmen häufig in ihrer Virtuosität miteinander verglichen worden (S. 118).

Ferner zeichnet Knaus eine tendenzielle Typologie der Kastratenrollen: Während, so nach Robert Freitas, in der frühen Oper (gemeint: vor 1649) Kastraten hauptsächlich Götter und allegorische Rollen gesungen hätten, so hätten sie ab den 1640er Jahren primär den liebenden, schwächlichen Mann dargestellt. Erst ab 1700 sei, vor allem in den Libretti Metastasios, die Mode der Darstellung von echten Helden aufgekommen. So habe bereits die Besetzungspraxis mit Kastraten in Männerrollen unterschiedlichen Schwerpunkten unterlegen.

Was nun Kastraten in Frauenrollen betrifft, so meint Knaus, dieses Phänomen sei in Rom erst im 18. Jahrhundert zum Tragen gekommen, als es in anderen geographischen Gebieten Italiens keine Tradition mehr gehabt hätte, was für das 17. Jahrhundert nicht in diesem Maße gegolten hätte (S. 123). Anhand der Besetzungslisten kann Knaus die Meinung, wonach Kastraten in Rom Frauenrollen vor allem in jungen Jahren gesungen oder sich darauf spezialisiert hätten, differenzieren. Es ist eine kleine, aber genaue Statistik der Anzahl von Kastraten, die in Frauenrollen in römischen Theatern zwischen 1718 und 1798 sangen, nach Sartori, vorhanden (S. 125). So gab es daneben noch gemischte Karriereverläufe (S. 125). Dass bevorzugt junge Sänger auftraten, ergebe sich einerseits aus der Jugendlichkeit der Darstellung als wichtiges Paradigma, andererseits zeuge es von geringen Prestige dieser Rollen und hänge auch mit der Entlohnung zusammen (S. 128).

 

War für die Darstellung alter Frauen die Unweiblichkeit – eben Männlichkeit – des Darstellers auschlaggebend, so musste in Rom die Darstellung von Frauen so weit als möglich von Alter und Männlichkeit entfernt sein, wofür die Jugendlichkeit des Sängers als ausschlaggebendes Qualitätsmerkmal fungierte. (S. 129)

Knaus' Resümee zur Männlichkeit der Kastraten lautet entsprechend:

 

Diese nicht vollwertigen Männer stellten jedoch in der Oper über einen sehr langen Zeitraum hinweg vollwertige Männer dar, was nicht generell als Widerspruch wahrgenommen wurde. Gleichzeitig waren sie aufgrund ihrer ,Nichtvollwertigkeit' keineswegs besonders dazu prädestiniert, Weiblichkeit auf der Bühne darzustellen. (S. 149)

Vor allem die letzte Feststellung bedeutet eine Korrektur des Forschungsstandes.Insgesamt lässt das Buch von Knaus kaum Wünsche offen, insbesondere, weil sie dezidiert auf die Wechselbeziehungen von Intermezzo/Opera buffa und Opera seria Bezug nimmt und auch das Sprechtheater mit einbezieht, wobei sie, wie gezeigt, zahlreiche neue Ergebnisse vorweisen kann. Vor allem aber können wir nun davon ausgehen, dass in den von Knaus' betrachteten Kontexten männliche und weibliche Singstimmen nicht austauschbar waren, ebenso, wie sich Kastraten nicht a priori zur Darstellung weiblicher Rollen eigneten, dies noch einmal in Bezug auf den vorherigen Forschungsstand wichtigsten korrigierenden Ergebnisse. Damit ist ein wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Oper gelungen, der Ausgangspunkt für weitergehende Forschungen sein muss.

 

Zur Problematik der Bezeichnung "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis für die Oper vor 1750

Die Lektüre von Kordula Knaus' Buch verweist nicht zuletzt auf jene Felder, die noch nicht oder unzureichend bearbeitet wurden. Zu wenig ist, trotz bedeutender Vorarbeiten, bisher über Geschlechter- und Körperbilder des behandelten Zeitraums bekannt. So wurde die Frage, inwieweit und aufgrund welcher Eigenschaften Kastraten als Männer, als Androgyne, Hermaphroditen, Frauen oder auch als Knaben wahrgenommen wurden, wie oben beschrieben nur in wenngleich teilweise überzeugenden Ansätzen und Vermutungen, die Ergebnisse der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Sexualitätsforschung einbezogen, aufgenommen. So kam die Beantwortung der Überlegung, was eine auf einer weltlichen Bühne oder in einer Kirchenempore stehende, singende Frau oder der sich dort befindende singende Kastrat für die Hörerinnen und Hörer des Sei- und Settecento bedeutete, über Stereotypen zeitgenössischer Diskurse nicht hinaus, ebenso wie eine Untersuchung der Zusammensetzungen des Publikums verschiedener Stimmaufführungen noch nicht dezidiert versucht wurde.

Solange noch nicht definiert worden ist, was Kastraten, Männer, Frauen und Kinder (zumal in unterschiedlichen Lebensaltern und sozialen Kontexten) in der Sicht der Mehrheit der Produzenten und des Publikums von Stimmaufführungen des Sei- und Settecento für Assoziationen auslösten, solange nicht nachgewiesen ist, ob Kastraten (sei es in ihren Rollen, sei es in ihrer Person) als "Männer", "nicht vollständige Männer" oder aber als ein "drittes Geschlecht" wahrgenommen wurden, ist es nicht wirklich konsequent, von "gegengeschlechtlicher" Besetzungspraxis zu reden. Denn diese bedarf zweier gegensätzlicher Geschlechter und ist demnach eine Konstruktion, die aus einer Sicht, die vorwiegend die Zeit ab 1800 vor Augen hat, resultiert.

Eine diesbezügliche Untersuchung einer größeren Grundlage an Traktaten und Handbüchern theologischer, medizinischer, juristischer, universalgelehrter, biologischer und physikalischer Natur in italienischer (nicht lateinischer) Sprache von 1600 bis 1750, die über die durchschnittliche Sicht der Hervorbringenden und Produzierenden von Singstimmen ebenso wie ihrer Hörerinnen und Hörer auf Männer, Frauen und Kinder Aufschluss gibt und die aus dieser Perspektive unter anderem versucht, zu klären, ob in ihnen ein bestimmtes (tatsächliches oder vorgegebenes) Geschlecht gehört wurde, wurde von mir unternommen und wird zur Publikation vorbereitet. Nach Konsultation dieser Quellen ist in der Tat von einer Unschärfe der Benennung "gegengeschlechtliche" Besetzungspraxis auszugehen. Denn Frauen und Männer waren im Italien dieser Zeit weder Gegensätze noch in einer pauschalisierenden Interpretation des one-sex models "fast das Gleiche". Vielmehr waren Frauen in der offiziellen wie nicht offiziellen theologischen, philosophischen und medizinischen Perspektive der Zeit etwas ganz anderes als Männer und deshalb weder als "andere Hälfte" noch als "Gegenpol" (was beides aus der Genesis heraus hätte interpretiert werden können) denkbar. Der Mann war Abbild Gottes, stand mit Abstand am höchsten in der Hierarchie der Schöpfung und dort allein, dies nicht zuletzt auch aufgrund seiner Fähigkeit der Gedanken und der Artikulation derselben in der schweigenden Schrift und klingenden Stimme. Die Frau wurde mit allen anderen Tieren, die nicht Mensch/Mann waren, gleichgesetzt, das Vorhandensein ihres Intellekts angezweifelt, ihre Kommunikation, also klingende Stimme, aus diesem Grund stark reglementiert. Zwar sind vereinzelt etwas positivere Umschreibungen ihrer Art zu finden, ebenso, wie wenige progressive AutorInnen versuchten, sie den Männern gleichzustellen. Daneben wurde nach der damaligen Rezeption verschiedener Zeugungstheorien der Antike und Beispiellisten berühmter Frauen von einer großen Zahl verschiedener Ausprägungen von Männern und Frauen mit jeweils verschieden großen Anteilen des männlichen und weiblichen bis hin zum "Mannweib" und "verweichlichten Mann" ausgegangen, die sich alle in der großen Ausprägung individueller Vokal- und Rollenprofile in Oratorien und auf der Opernbühne wiederfanden. Gleichzeitig wurde seitens der Zeitgenossen eine Annäherung von Männern und Frauen, nie aber ihre Vereinigung in einem Individuum nach Art eines Hermaphroditen, der beide Geschlechter zu gleichen Teilen beinhaltet hätte, für möglich befunden. Dies zeigen die zahlreichen Schilderungen von als lediglich scheinbar eingeschätzten Geschlechtsumwandlungen, etwa in den Heiligenviten, ebenso wie zivil- und kirchenrechtliche Entscheidungen auf der Basis philosophischer, theologischer und medizinischer Traktate. Das offizielle Sei- und frühe Settecento Italiens mit seiner katholischen Identität war eine Kultur, die sich in weit höherem Maß anhand der Schriften der Antike und des Alten Testaments, die beide als für das Christentum prophetisch angesehen wurden, legitimierte als anhand von Aussagen, die allein dem Neuen Testament hätten entnommen werden können. Die Tatsache, dass das Wort "Mann" im eigentlichen Sinne [maschio] kaum verwendet wurde und es zu diesem keine Traktate gibt, wohl aber eine sehr hohe Anzahl an Traktaten zu Frauen, unterstreicht dies zusätzlich.

Diese peripathetische Wahrnehmung überlagerte, in Nachfolge der Kommentare der Kirchenväter, wenngleich weit mehr inoffiziell als offiziell, nahezu die ganze Kultur der katholischen Reform und überdeckte entsprechend andere, mögliche Interpretationen des Neuen und des Alten Testaments. Selbst die auf einige Textzeilen Platons und Widersprüche bei Aristoteles rekurrierenden Befürworter der Frauen zwischen 1600 und 1750 gingen von solchen Grundlagen aus; ihre Betonung erfolgte auffällig häufig in Schriften, die sich an Männer richteten, während jene Bücher, die Frauen zur Zielgruppe hatten, solche Überzeugungen weniger offen äußerten. Dies geschah sicherlich auch deshalb, um die damals betonten Fähigkeiten der Frauen wie den Dienst am Nächsten (diesen mit gewissen Grenzen), Frömmigkeit und Duldsamkeit zu befördern. Es ist zu beobachten, dass die Kirche nur in Momenten, in denen die aristotelische Meinung zu offensiv, zu offiziell vertreten wurde, eingriff (so etwa im Verbot des Buches Che le donne non siano della specie degli uomini von 1644, worauf Wendy Heller als erste Musikwissenschaftlerin hinwies).18 Dies schloss regionale Sonderentwicklungen ebenso wenig aus wie die Duldung offiziell verbotener "Berufungen" für Frauen. Mit dem Hintergrund solcher Überlegungen19 scheint die Übertragung des Begriffes "cross-dressing" und "gegengeschlechtliche Besetzungspraxis" auf das italienische Sei- und frühe Settecento nur insofern als sinnvoll, als eine allererste Orientierung der Leserinnen und Leser zum behandelten Thema vorgenommen werden kann. Zweifel am allzu raschen Übertragen von aus der Einschätzung anderer Jahrhunderte heraus resultierendem Begrifflichkeiten auf diesbezüglich weniger untersuchte Zeiträume seien angemeldet. Dies geschieht freilich nur im Dienst des Wunsches einer noch größeren Differenzierung und weiterer Gedankenanregungen zum Thema, wie sie nun angesichts der zahlreichen Neupublikationen erstmals möglich werden.

 

Marco Beghelli, Raffaele Talmelli: Ermafrodite armoniche. Il contralto nell'Ottocento, Varese: Zecchini Editore 2011.

Das oben genannte Buch ist in seinem Hauptteil durch Marco Beghelli konzipiert und verfasst. Es wird durch einen kürzeren Text von Raffaele Talmelli ergänzt. Im folgenden sei eine erste, kurze Übersicht gegeben, bevor die beiden Abschnitte gesondert detailliert besprochen werden.

Marco Beghelli beschreibt in seiner Veröffentlichung Frauen- und Kastratenstimmen, die auch in so genannten "gegengeschlechtlichen" Rollen eingesetzt wurden. Insbesondere rekurriert er auf Anteile der Stimme, die von ihren Zeitgenossen als "männlich" [voce mascolina] und "weiblich" [voce femminina] beschrieben wurden und die eine "dramatischere, rauhere Altstimme" bei gleichzeitiger "leichter Sopranstimme" [soprano leggero e buffo/serio] aufgewiesen hätten (S. 11, S. 5, S. 114). Der gleichzeitige Besitz beider Stimmen, so Beghelli, sei als Qualitätsstandard der Gesangstechnik von Sängerinnen und vielleicht auch Kastraten bis ins 20. Jahrhundert hinein gefordert worden. Mehr noch: Das zentrale Thema der Oper, jedenfalls, wie sie seitens Théophile Gautier 1849 beschrieben wurde, sei die Androgynie gewesen (S. 19).

Entsprechend steht die Untersuchung des Stimmklangs und der Gesangstechnik einer Gruppe von Sängerinnen und Sängern des 19. Jahrhunderts, die zwar bis heute zu den berühmtesten ihrer Zeit gehören, deren wahre Stimmausprägung aber bis heute eher unbekannt war, im Zentrum des Buches: "Harmonische/wohlklingende Hermaphroditinnen", wie sich der Titel annähernd übersetzen lässt. Annähernd, weil das Adjektiv "armonico" auf einen umfangreichen Assoziationshintergrund, der seinen Ausgang von der Musik der Sphären, den Sirenen und Musen nimmt, verweist. "Ermafrodita armonica": so wurde Maria Malibran anlässlich ihrer Titelrolle des Rossini'schen Otello 1835 beschrieben.

Der Nachweis der doppelten Stimmen gelingt Beghelli mittels einer Befragung der Beschreibungen der Singstimmen seitens ihrer Zeitgenossen sowie einer Sichtung der für sie geschriebenen und von ihnen versehenen Partien, wobei aussagekräftige Notenbeispiele ebenso wie Portraits und Fotographien eingefügt sind. Bei jenen Sängerinnen, zu denen Tonaufnahmen vorhanden sind, werden auch diese analysiert und in der CD mitgeliefert, erfreulicherweise vor allem solche des Zeitraums von 1901 bis 1912. Hinzu kommt eine kleine Sensation, nämlich Raffaele Talmellis Dokumentation eines historischen Einzelfalls aus dem 20. Jahrhunderts, und zwar der als Mann geborenen, mit den Initialen A.T. bezeichneten Sängerin, die aufgrund des Partialen Morris-Syndroms (PAIS) dritten Grades wahrscheinlich körperliche Parallelen zu Kastraten aufwies. (Die Tatsache, dass sie in der Nähe des seit mindestens dem 16. Jahrhundert für seine nicht nur Sopran bis Alt, sondern auch Tenor und Bass singenden Nonnen bekannten Klosters San Vito in Ferrara aufwuchs, ist ein kurioses Detail.) Nicht zuletzt über den Umweg des klingenden Beispiels der Stimme dieser Sängerin im Vergleich mit der Aufnahme Alessandro Moreschis sowie Beschreibungen und Gesangspartien für die letzten Kastraten schließt Beghelli die Frage nach der Beschaffenheit der Kastratenstimmen und des Erbes derselben in den Altstimmen ein.

Die auf hohem philologischen Standard erfolgte Analyse des Phänomens der "doppelten Stimme" und damit, wie sich herausstellt, des Alts/Kontralts vom 18. Jahrhundert bis heute wird ausschließlich von Marco Beghelli vorgenommen. Eine Ergänzung bildet die angefügte, kurze, persönlich geprägte Biographie A.T.s durch Raffaele Talmelli, die auf gesangstechnische, soziologische, kulturwissenschaftliche und religionsgeschichtliche Aspekte verweist und die deshalb nicht zuletzt zu Überlegungen zu Parallelen des Umgangs der Gesellschaft und der Kirche vorheriger Jahrhunderte mit Kastraten anregt.

 

Marco Beghelli über die doppelte Stimme

Zu Maria Malibrans berühmtesten Partien gehörten Tancredi und Amina, wovon die erste heute gewöhnlich von Altistinnen, die zweite von Sopranen gesungen werde. Sie habe über eine echte doppelte Stimme, nämlich einen Alt "bewusst vermännlichten Klangs" und einen "vollkommenen, leichten" Sopran verfügt, was sie auch nicht versteckt habe. So sei von einer wahren "vokalen Androgynie" zu sprechen (S. 22). Beghelli weist diese doppelte Stimme mit ihren doppelten Registern und ihrer ästhetischen Inhomogenität als Ideal für Altistinnen bis ins 20. Jahrhundert hinein nach und kennzeichnet sie als Erbe der Stimme der Kastraten. Dies gelingt, denn was zuerst als ein Aneinanderhängen unterschiedlicher Kapitel zu Sängerinnen zu sein scheint, entpuppt sich bei genauerer Lektüre als eine stringente Erzählung des Hermaphroditismus in der Altstimme. Isabella Colbran und Giuditta Negri, heute als Soprane bezeichnet, hätten genau diesen Stimmtyp aufgewiesen. Es sei alltäglich gewesen, dass Sängerinnen Norma und Adalgisa, Aida und Amneris, Amina und Isotta, Nedda und Arsace, Lady Macbeth und Ulrica innerhalb derselben Karriere und Jahre gesungen hätten. Auch Théophile Gautiers Gedicht "Contralto" von 1849, das ebenfalls das Wort des "Hermaphroditen" enthält, ist mitpubliziert (S. 165f). Gautier soll von Marietta Albonis Pariser Debüt in Le Prophète (Meyerbeer) inspiriert worden sein, was er selbst bezeuge: "So viel Anmut und so viel Kraft, so viel Potenz und Leichtigkeit! Eine so weibliche Stimme und im gleichen Moment so männliche! Julia und Romeo in der gleichen Kehle." (S. 20) Die Dauer der Karrieren der mit einer solchen doppelten Stimme begabten Sängerinnen habe, wie etwa bei Ernestine Schumann-Heink und Marian Anderson, je etwa 60 Jahre betragen. Viele andere waren circa 50 Jahre lang tätig. Der Verdacht, die doppelten Stimmen seien nur durch einen Defekt der Stimmhebung verursacht worden, müsse deshalb, so Beghelli angesichts der Gesundheit dieser Stimmen, zurückgewiesen werden (S. 134). Auch Verdi habe eine entsprechende mit doppelter Stimme begabte Altistin für seine ihm sehr am Herzen liegende Azucena gefordert (S. 135). Die großen Opernfiguren mit Altstimme des 19. Jahrhunderts seien oft Männer oder Frauen, die in Verkleidung Geheimnisse verbergen/enthüllten (Arsace/Nina), eine doppelte Natur hätten (Rosina "docile e vipera"), eine andere Identität, als die, mit der sie erschienen, aufwiesen (Fidès), die mit bösen Absichten (Dalila) oder rächend (Azucena) daherkämen, was von zärtlichen Zügen verdeckt werde. Auch die mit einer leichteren Stimme gedachten Protagonistinnen zielten gewöhnlich auf Betrug (Isabella), wiesen eine plötzliche Änderung des Charakters (Maddalena) oder des sozialen Status (Cenerentola) auf (S. 137f.).

Über Marietta Alboni, Guerrina Fabbri, Pauline Viardot, Marianne Brandt, Eugenia Mantelli und anderen bis zu Marian Anderson gelangt Beghelli zum Kapitel "Vom Alt zum Mezzosopran". Dabei versteht er unter einem Mezzosopran eine Stimme, die oft mit dem Ambitus eines solchen damaligen Altes deckungsgleich sei, die aber über die ganze Breite eine homogenere Farbe des Klanges aufweise, mit sehr kleingender Höhe und ohne die "mächtigen Resonanzen" der Bruststimme in tieferen Bereichen. Gerade anhand der Beurteilung der Tonaufnahmen gelangt Beghelli ferner zur These einer "Mezzosopranisierung" der Altistinnen ab 1920 (S. 91), mit einer ausbalancierten Intensität der Töne, mit "weniger männlichen, weniger kräftigen" Brustresonanzen bei gleichzeitig "klingenden und gut gedeckten Höhen". Damit entlarvt Beghelli den Mezzosopran auf der Opernbühne, wie er uns heute vertraut ist, als ein vergleichsweise neues Stimmfach.

Immer wieder nimmt Beghelli auch auf Parallelen in den Tenor- und Baritonstimmen Bezug: Ähnliches sei in denselben Jahren in Bezug auf die Baritone zu beobachten, die keine hellen und leichten hohen Töne mehr gehabt hätten, zugunsten voller, klingender Töne, die homogener mit der Farbe der tiefen Töne gewesen seien, wie etwa Titta Ruffo.

Es sei, so Beghelli weiter, die Vokalität der Kastraten gewesen, die die "doppelte" Stimme des Alts des 19. Jahrhunderts wie des vorromantischen Tenors weitergeführt habe. Dies weist er anhand der Sängerinnen Rosminda Pisaroni und Marianna Marconi sowie eines entgegen lautenden Urteils der Singstimme des Kastraten Giovanni Battista Velluti nach. Letzterem fehlte offenbar die klingende, männliche Tiefe, was in den zeitgenössischen Beschreibungen seiner Stimme herausgehoben wurde. Die "doppelte" Stimme Marietta Albonis sei es gewesen, die Rossini dazu gebracht habe, sie als "der letzte Kastrat" zu bezeichnen (S. 131). Seine These belegt Beghelli mit bestimmten Gemeinsamkeiten, die die Aufnahmen der Stimme Alessandro Moreschis, offiziell "des letzten Kastraten", und jene der Stimme A.T.s (1920–2005), die/der an dem Morris-Syndrom gelitten hat, aufweisen. Es fehlt auch nicht der Hinweis auf die Gesangstechnik des "canto di sbalzo", ebenso wie jener auf die Entwicklung des zu ihrer Zeit neuen Instruments der Klarinette mit ähnlich unterschiedlichen Registern, sowie die musikalische Textur von Kastraten- und Frauenpartien mit erheblichen, auf Registerwechsel und Wechsel von Klangfarben und Timbre zählenden Sprüngen, wie etwa in Mozarts "Esultate, jubilate" für den Kastraten Venanzio Rauzzini oder in Fiordiligis Arie "Come scoglio" in Mozarts Così fan tutte.

Am Interessantesten ist die "Lobrede auf die Ambiguität" (S. 133). Beghellis Sache ist es nicht, sich hier mit zahlreichen möglichen Definitionen des "Ambiguen" aufzuhalten. Auf solche wies Susanne Egger im Hinweis von Foucault über Markus Hirschfeld bis zu Ruth Gilbert hin (siehe Anm. 4 dieses Aufsatzes). Dass Beghelli diesen Bereich der Literatur bestens kennt, hat er im Übrigen in seinem Aufsatz "Erotismo canoro", in dem er sich überdies als Anhänger der "Körnung der Stimme" nach Roland Barthes erweist, bewiesen.20 Der Gesang der Kastraten, so Beghelli, habe auf die Kraft der Abstraktion, die Symbolhaftigkeit des Gesangs gesetzt. Ziel sei das Heraufbeschwören einer phantastischen Bühnensituation gewesen. Die Ambiguität des Timbres wie des Geschlechts sei für diesen Zweck grundlegend gewesen. Nicht nur die Verneinung des Geschlechts und des Alters des Darstellers auf der Bühne in der Figur des Protagonisten, sondern auch die doppelte Stimme selbst sei Teil des Spiels des Theaters gewesen. Sobald es offiziell keine Kastraten mehr gegeben habe (also seit 1797 in Neapel), habe man deshalb auf Frauen, die als Mann verkleidet gewesen seien und die mit männlichem Timbre in der Tiefe und mit Soprantimbre der Höhe gesungen hätten, zurückgegriffen. Gleiches habe für männliche Tenöre, die in einer bestimmten Lage Töne hervorgebracht hätten, die in gewisser Weise auf die weibliche Stimme verwiesen hätten, gegolten – auch wenn diese recht bald in Ungnade gefallen sei (gemeint: die "voce di falsetto" der Tenöre und Baritone). "Insbesondere das unvorhersehbare und unerwartete Auftauchen einer Stimme am Ende einer mit klarem Soprantimbre gesungenen, absteigenden Tonleiter, die fast als männlich zu bezeichnen ist, ließ den klingenden Effekt der Altistinnen außergewöhnlich werden, wie es jener der Kastraten gewesen war." Damit hat Beghelli Grundprämissen des Theatralischen ausgemacht und bestätigt.

Marco Beghelli hat in der Tat eine zentrale Beobachtung ausgearbeitet, die auf ganz unterschiedlich gelagerte entscheidende Paradigmenwechsel zwischen 1730–1750 und 1800 hinweist. Denn eine genaue Betrachtung der im Übrigen recht bekannten, überlieferten italienischen Stimmbeschreibungen von 1600 bis 1730, vielleicht auch bis 1750, zeigt, dass diese die Termini "Hermaphrodit/hermaphroditisch" oder "ambivalent" nicht verwendeten und auch entsprechende Andeutungen vermieden. Dies ist der bisherigen Forschung unbekannt, geht aber aus der Gesamtheit der überlieferten Beschreibungen, die nicht von Reisenden oder in England lebenden Italienern vorgenommen wurden, hervor. Diese Ausrichtung der Stimmbeschreibungen lässt auf eine offizielle Wahrnehmung der Singstimmen in Italien schließen, für die deren Bindung an ein "drittes Geschlecht" oder an einen wie auch immer gearteten "Hermaphroditen" nicht erstrebenswert war. Mehr noch, bis mindestens 1750 war in Italien vorwiegend von "ermafrodito" in der männlichen Form die Rede, dies nicht nur in der Bezeichnung des Eigennamens des Ovidschen Protagonisten, sondern im Hinweis auf die vorwiegend männliche Natur des Hermaphroditen selbst. "Hermaphroditinnen" waren demnach in der Tat eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts.

So regen die Ergebnisse des Buchs von Beghelli dazu an, zwar nicht die Annahme einer großen Relevanz von "doppelten Stimmen" auch im Sei- und Settecento, wohl aber in deren übliche Bewertung als Hermaphroditen im Sinn eines göttlichen, doppelten, zu gleichen oder ungleichen Teilen männlichen wie weiblichen Geschlechts zu bezweifeln und differenzieren.21

Zwar sah die Musik- und Theaterwissenschaft in der Benennung ihrer Weichheit (mollezza) und Verweichlichung/Verweiblichung (effeminatezza) einen Hinweis auf ihre hermaphroditische Natur. Doch erfolgte die Zuschreibung dieser Termini zu Kastraten in Italien kaum, lediglich vereinzelt im Seicento, etwa durch Salvator Rosa,22 später durch die Rigoristen sowie den gemäßigten Ludovico Antonio Muratori.23 Dabei bezogen sie sich fast immer auf die Seele und den Körper, fast nie aber auf die Singstimme der Kastraten. Auch waren Weichheit [mollezza] und Anmut [grazia] zu differenzieren, ist von männlicher und weiblicher Weichheit und Anmut, die sich unterschieden, die Rede. Die Kennzeichnung der Protagonisten der venezianischen Opernbühne als "effeminiert" in einigen Librettodrucken der 1650er bis 1680er Jahre verliert in gewisser Weise an Relevanz, wenn bedacht wird, wie "männlich" Protagonistinnen angelegt wurden. Beide waren zudem noch moralisch anstößig angelegt, eine durch Folge der von Paolo Fabbri nachgewiesenen Entwicklung der Handlungen des "dramma per musica" Venedigs der zweiten Hälfte des Seicento hin zum Spektakulären, Voyeuristischen.24 Später, bei Metastasio, wurden Kastraten wie Frauen als positive Charaktere eingesetzt. Von einer eindeutigen stimmlichen Prädestinierung als verweichlichte, negative Helden, die auf dem Körperbau beruht hätte, kann demnach nicht ausgegangen werden. Vor allem aber wurde der juristische Status der Kastraten, die in der Sicht der Zeit als vollkommene Männer geboren worden waren, trotz der erlittenen Einbußen, der damals angenommenen Veränderung auch des Gehirns durch die körperlichen Folgen der Kastration und der Einstufung als "nicht in der Regel" (irregolari) nie so weit gesenkt, dass diese bis zu einem den Frauen ähnlichen Status herabgesunken wären. Hier sei auf die fast nie fehlende Bezeichnung von Kastraten als "Engeln", sei es im geistlichen, sei es im weltlichen Gesang, hingewiesen. Dies ist ein weiterer Hinweis auf eine Negierung einer Androgynität im Sinne weiblich-männlich. Engel galten in den Traktaten der Gegenreformation doch, da aus Geist bestehend, a priori als männlich und wurden, soweit ihnen im Interesse besseren Verständnisses durch die Laien eine Körperlichkeit zugebilligt wurde, als "junge Männer" klassifiziert. Die These, sie könnten weiblich sein, wurde engagiert zurückgewiesen (dies übrigens ganz im Gegensatz zur Renaissance).

Eine solche Abwesenheit von Hinweisen zu Hermaphroditen in italienischen Stimmbeschreibungen bis ins frühe Settecento, die freilich der Grundüberzeugung des aktuellen Forschungsstands entgegensteht, ist überdies in einer Epoche zu konstatieren, in der innerhalb der Gegenreformation die Vorstellung eines "dritten Geschlechts" aus Frauen und Männern in gleichen Teilen in nahezu allen offiziellen italienischen Diskussionen der entsprechenden Quellen der Antike, sei es seitens der Mediziner, Juristen, Theologen, häufig sogar der Poeten, abgelehnt wurde, auch dies im Gegensatz zu Mittelalter und Renaissance. Lediglich in beschränkten, sich bewusst der offiziellen Lehrmeinung der katholischen Kirche entgegenstellenden Schichten konnte die Vorstellung eines dritten Geschlechts, jedoch auch hier reduziert auf einen grundlegend männlichen Hermaphroditen mit wenigen weiblichen Anteilen, elitär tradiert werden. Solche, meist unter sich verbleibende, sehr einflussreiche Minderheiten sind im Klerus, unter den weltlichen Herrschern sowie den Mitgliedern einiger Akademien zu vermuten. Quellen, die dies in Bezug auf Stimmbeschreibungen oder in Bezug auf Beschreibungen des Körpers von Kastraten konkret formulieren, müssten jedoch in größerer Quantität noch aufgefunden werden. Andeutungen sind freilich in Poesie und Rhetorik der Zeit zu finden, die sich, hätte sie die Annahme vom Hermaphroditen aufgegeben, einer wesentlichen Metapher beraubt hätte. In diesen Kontext und dieses Milieu gehört auch der Nachweis von Robert Freitas, wonach in der pubertären Phase einem heranwachsenden Jungen für eine beschränkte Zeit Anteile des Weiblichen zugebilligt wurden, die dieser zu überwinden hatte, eine Vorstellung, die wahrscheinlich vor allem auf junge Kastraten unter zwanzig Jahren, nicht unbedingt aber auf ältere, übertragen werden konnte.25

Oben wurde die Beobachtung geringen Interesses für Hermaphroditen im Sinn von halb-Mann, halb-Frau im Sei- und frühen Settecento bei vollkommener Ablehnung von Hermaphroditen vorwiegend weiblichen Geschlechts erwähnt.26 Diese wird von der Ablehnung, die die katholische Kirche einer möglichen Interpretation der eindeutigen Quellen der Antike und Heiligen Schrift in Bezug auf die Existenz eines "drittes Geschlechts" entgegenbrachte, bestätigt. Gleichzeitig akzeptierten bestimmte Schichten männliche Hermaphroditen. Dies stellt die von Beghelli angesprochene Möglichkeit einer "doppelten Stimme" auch für Kastraten- und Frauenstimmen zwischen 1600 und 1750 nicht in Frage. Sie deutet aber darauf hin, dass nicht die "doppelte Stimme" als solche, sondern ihre Wahrnehmung und Bewertung abhängig von der Hörerschaft größtenteils eine andere als jene ab ca. 1730 oder gar 1750 gewesen sein könnte.

Nicht nur an dieser Stelle verweist Marco Beghellis Text auf Fragen, die ausgehend von seinen hier besprochenen Ergebnissen noch zu beantworten wären: Wie war der männliche und weibliche Kontralt, die in der deutschsprachigen Musikwissenschaft gerne als eigenes Stimmfach gesehen werden, im Vergleich zum Alt ausgerichtet? Denn das italienische "contralto" umfasst den deutschen "Alt" wie "Kontralt", weshalb Beghelli begreiflicherweise nicht explizit auf den Unterschied eingeht. Wie wurden Soprankastraten ausgebildet – ebenfalls mit entsprechenden differierenden Registern? In welche Richtung wurden dramatische Sopranistinnen geführt? In Bezug auf diese unterstrich Lucetta Chiappini kürzlich eine ähnliche Beobachtung in Bezug auf den dramatischen Einsatz der Bruststimme in tieferen Regionen und vergleichsweise leichtere Kopfstimme in höheren,27 was Beghellis Untersuchungen eines bestimmten Stimmideals nach 1800 bekräftigen könnte.

Vor allem aber könnten Beghellis Thesen Anregungen für eine neue Sängerinnengeneration geben, wenn auch nur theoretisch, da es kaum eine Gesangslehrerin oder ein Gesangslehrer wagen wird, eine Stimme "doppelt" und nicht über alle Oktaven hinweg "egal" oder gar, wie Beghelli anhand einiger der berühmtesten Sängerinnen nachweist, mit einem deutlich hörbaren Bruch zwischen zwei Stimmen auszubilden und damit die Karriere ihrer Schülerin zu gefährden. Andererseits wäre eine solche Sängerin damit gerade für häufig gespieltes Repertoire geeignet (Mozart, Rossini, Verdi), sofern man historisch informierte Aufführungspraxis zugrunde legen möchte. Denn nach einer Lektüre des Buches von Beghelli fragt sich der Leser zwangsläufig, ob ein Tancredi, wie er heute besetzt wird,28 wirklich der Faszination dieser Rolle, wie sie sich für die Zuschauer des 19. Jahrhunderts darbot, gerecht werden kann.

Umgekehrt wäre zu fragen, ob ein heutiges Publikum die damalige Ästhetik noch akzeptieren würde. Vielleicht schon: Denn einige Sängerinnen unternahmen vom Publikum goutierte Annäherungen an dieses Ideal, so etwa die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova, die im Tancredi bewusst auch die ‚männlichen‘ Anteile ihrer Stimme in tiefen Lagen bei größerer Leichtigkeit in hohen einsetzt. Signifikant allerdings ist das Auftreten der benannten "doppelten" Stimme beim italienischen Sopranisten Angelo Manzini (geboren 1958), den Beghelli erwähnt. Selbstverständlich hat hier gerade die geringere Bekanntheit des "Stimmfaches" im Gegensatz zum Mezzosopran und daher die weniger feststehende Tradition eine solche "doppelte" Stimme leichter ermöglicht.

 

Raffaele Talmellis Biographie von A.T.

Talmelli verfügt über eine Ausbildung, die es ihm erlaubt, die persönliche und stimmliche Biographie von A.T. aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig zu beschreiben. Denn er ist Mediziner (Psychologe), Philosoph und Sänger, Dozent der Pastoralen Psychologie des Theologischen und Philosophischen Instituts des Päpstlichen Seminars in Siena und arbeitet mit dem Institut für Neurowissenschaften in Florenz in Bezug auf die Erforschung von Stimmen der Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Einigen Leserinnen und Lesern mag die mit dem Anliegen des katholischchristlichen Glaubens verknüpfte Erzählweise als ungewohnt erscheinen. Lesenswert ist der Bericht Talmellis allemal.

Die 1920 als Mann geborene Sängerin A.T., mit Künstlername Lily Dan, litt höchstwahrscheinlich unter PAIS dritten Grades, was dem "Reifenstein-Syndrom" entspricht, bei dem der Androgenrezeptor des Körpers nur unzureichend funktioniert. Nach ihrer Ausbildung bei Lucia Crestani (1885–1972), einer für die Partie der Aida bekannten Sängerin, im weiblichen Stimmfach und dem verhinderten Debüt an der Scala 1938 folgten der Dienst in der Marine 1941 und die Verschleppung in die Lager Lautawerk und Birkenau (1943–44). In der Folge gab A.T. ihre Gesangskarriere auf. Mit fünfundsiebzig Jahren, als Talmelli A.T. näher kennenlernte, habe sie "glänzend über drei Oktaven" gesungen. Sie konnte dazu gebracht werden, 1997 ein Konzert zu geben, von dem mehrere CDs, zunächst für Freunde der Sängerin, produziert wurden. Allein die detailliert geschilderten Selbst- und Fremdwahrnehmungen A.T.s, die Talmelli schildert, verdienen eine nähere Lektüre. Die Hinweise auf die Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt war und die sie mittels verschiedener Strategien zu überwinden suchte (intensive Praxis der katholischen Religion sowie Versuche, sich zu verbergen und den Körper zu maskieren) steht geradezu in einer älteren Tradition der Kastratenrezeption, und zwar jener, die aus den Sängern Leidende und Ausgestoßene machen möchte. Hier sei an den Film Farinelli. Il castrato von Gerard Corbiau (1994) oder das Album Sacrificium (2009) von Cecilia Bartoli erinnert. Ob diese Wahrnehmung den Kastraten angemessen ist, wäre zumindest für das Sei- und Settecento zu bezweifeln. Im Vergleich mit A.T. sei unterstrichen, dass, wie wir anhand der obigen Argumentation nachweisen konnten, vergleichsweise viele Kastraten gleichzeitig in Italien lebten. Die oben erwähnte Zahl nach Claudio Sartori beträgt 239 Sänger, davon die Mehrzahl Kastraten, und dies waren nur die berühmtesten Bühnenstars für den Zeitraum der ersten Jahrzehnte des Settecento, während die weniger erfolgreichen, darunter vor allem jene, die ausschließlich im kirchlichen Dienst standen, hier nicht eingeschlossen sind. Dagegen belegt A.T.s. Selbstwahrnehmung als einzige Transsexuelle Italiens eine begreiflicherweise extreme, nicht leicht zu ertragende Sonderstellung, die im Gegensatz zu den Kastraten nicht antik-christlich legitimierbar war.

A.T.s Singstimme, beurteilt als weibliche Stimme, wurde als qualitätsvoll angesehen und seitens der Scala nicht abgelehnt. Abgelehnt wurde vielmehr die Person, als der Operndirektion deutlich wurde, dass das biologische Geschlecht der Sängerin von ihrem sozialen differierte, so jedenfalls die eigene Erzählung A.T.s. Darüber hinaus macht das Beispiel deutlich, dass die Kenntnis der biographischen Besonderheiten und wahrscheinlich auch des wahren oder imaginierten Lebenslaufes von Sängerinnen und Sängern den Höreindruck sogar im Gesang geschulter Hörerinnen und Hörer beeinflussen können. Dies wiederum kann ein Ansatzpunkt zur noch immer ungeklärten Frage, inwieweit sich das Wissen oder die Annahme des Singens eines Kastraten oder einer Sängerin in den Höreindruck ihrer Stimmen übertragen haben könnte und kann.

 

Fazit

Soweit der Status quo der Forschung zum Thema Anfang 2012. Die Publikationen von Kordula Knaus und Marco Beghelli werden die aktuelle Diskussion entscheidend bereichern und ergänzen sich in vielen Punkten und Fragen hervorragend. Gleichzeitig verweisen sie auf all jenes, was noch nicht geklärt wurde und jetzt vorgenommen werden kann, was ebenfalls für ihre Qualität spricht. Kaum ein Thema ist so komplex und muss derart gut nach einzelnen Orten, Jahrzehnten und Aufführungskontexten differenziert werden wie jenes der Singstimme und "gegengeschlechtlichen" Besetzungspraxis. Dies gilt auch für die Auffassung vom Männlichen und Weiblichen in den entsprechenden Kontexten und die kritische Überprüfung übernommener Termini. Vor allem aber bedürfen die Vorläufer der erst seit 1920 etablierten Stimmfächer einer genauen Untersuchung. Es darf nicht vergessen werden, wie jung die uns bekannte Ästhetik der Singstimmen, wie sie sich auf heutigen Bühnen darbietet, ist. In dieser Hinsicht gibt es also noch manches für die Musik(theater)wissenschaft wie für die Gender studies zu tun, ebenso wie auf entscheidende bereits unternommene Untersuchungen als Grundlage zurückzublicken ist. In einer glücklicheren Lage könnte die Forschung nicht sein.

 


1 "Das Schreiben über Sängerinnen und Sängern, die vor der Erfindung der Schallplatte gelebt haben, entspricht der Erörterung einer Ästhetik eines Malers, von dem kein einziges Bild überliefert ist.", so Marco Beghelli, Ermafrodite armoniche, S. 5, hier ins Deutsche übersetzt. Sieghart Döhring spricht zu Recht von einer "[…] prinzipiell unlösbaren Problematik, […] sich einer verklun¬genen Stimme allein aufgrund schriftlicher Überlieferungen nähern zu wollen." Sieghard Döhring, "Faustina Bordoni – erste Diva der Operngeschichte", in: Saskia Maria Woyke, Faustina Bordoni. Biographie, Vokalprofil, Rezeption, Berlin 2010, S. 5–7, hier S. 6.

2 Anke Charton, Prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme. Geschlechterbilder in der Oper, Leipzig 2012.

3 "In den Kastraten erfüllten sich die hermaphroditischen Wunschträume des Barock. Die Suche nach dem Stein der Weisen, die das spekulative Denken dieser Zeit beschäftigt, ist die Suche nach einem mythischen Symbol, das zur Hälfte männlich, zur Hälfte weiblich ist. In den Kastraten wurde dieses Ideal gefunden." Hubert Ortkemper, Engel wider Willen, München 1995, S. 85.

4 Susanne Egger, Der Kastratensänger als hermaphroditisches Phänomen des 17. und 18. Jahrhunderts, Unveröffentlichte Diplomarbeit der Universität Wien 2000. Egger unternimmt eine Zusammenstellung bisheriger Definitionen des Hermaphroditismus und der Ambiguität und bezieht beide auf Kastraten, mit Rekurs auf Michel Foucault/Herculine Babin, Über Hermaphroditismus, Frankfurt am Main 1998; Michael Bachtin, Literatur und Karneval: Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main 1990; Ruth Gilbert, Problem of the Sexes. Representing the Renaissance Hermaphrodite, Southampton 1996; Magnus Hirschfeld, Sexualpathologie […], Bd. 2: Sexuelle Zwischenstufen. Das männliche Weib und der weibliche Mann, Bonn 1918.

5 Joke Dame, "Unveiled Voices. Sexual Difference and the Castrato", in: Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology, hrg. von Philip Brett u.a.,  New York 1994, S. 139–154.

6 "Hatte man hier doch einen Mann vor Augen, der einige weibliche Merkmale aufwies, jedoch gleichzeitig lebenslang einen Teil der Kindheit in sich bewahrte. Diese Dreiheit Mann / Frau / Kind trug dazu bei, daß ein Mensch verehrt wurde, der sich jenseits des üblichen menschlichen Schicksals zu bewegen schien." Patrick Barbier, "Über die Männlichkeit der Kastraten", in: Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrg. von Martin Dinges, Göttingen 1998, S. 123–150. S. 129. Andererseits: "Der Kastrat bot […] alle Vorteile der Frauenstimme, außerdem kindliche Anmut und androgyne Sinnlichkeit im Körper eines Mannes.", ebd., S. 130f.

7 Roger Freitas, Portrait of a Castrato. Politics, Patronage, and Music in the Life of Atto Melani, Cambridge 2009.

8 Vgl. hierzu Giovanni Sole, Castrati e Cicisbei. Ideologia e moda nel Settecento italiano, Soveria Mannelli 2008, S. 26f., S. 38. Luca Scarlini, Lustrini per il regno dei cieli. Ritratti di evirati cantori, Turin 2008, S. 14f.

9 Kordula Knaus, Männer als Ammen, S. 149.

10 Claudio Sartori, I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici, Cuneo 1990.

11 Die im folgenden wiedergegebenen Ergebnisse sind in Aufsätzen formuliert, die als Tagungsberichte im Druck erscheinen. Dort sind die vollständigen tabellarisch-numerischen Angaben sowie weitere Auswertungen zu finden. Es handelt sich um: "Venezia – mercato dei cantanti d'opera? Annotazioni sull'import-export di cantanti nel primo Settecento", in: Bericht zur Tagung Venezia mercato delle arti, Deutsches Studienzentrum in Venedig/TU Dresden, 9. bis 11. Oktober 2008, hrg. von Barbara Marx und Christoph Mayer; "Die Vokalprofile von Hasses Sängerinnen und Sängern 1726–1732", in: Band zur Tagung Johann Adolf Hasse. Tradition, Rezeption und Gegenwart, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 23. bis 25. April 2010, hrg. von Wolfgang Hochstein.

12  Hier sind zu nennen: Le Grazie veneziane, Musica degli ospedali, Körnerscher Sing-Verein, Dresdner Instrumental-Concert, Peter Kopp, Carus CD, 2008; Chiara Margarita Cozzolani, I Vespri natalizi (1650), Cappella Artemisia, Candace Smith, Bologna 2004 (Musik, die für die Singstimmen der Nonnen in Santa Ranegonda in Mailand geschrieben wurde); Cristofaro Caresana, L'Adorazione de' Maggi. Cantate napoletane. I Turchini, Francesco Florio, Neapel 2010 (Musik, die von Knaben, die zu Kastratensängern ausgebildet wurden, gesungen wurde); Giacomo Carissimi, Virtuoso soprano motets. Robert Crowe, Michael Eberth, Bayerischer Rundfunk, Profil Medien 2008.

13 Wendy Heller, Emblems of Eloquence. Opera and Women's Voices in Seventeenth-century Venice, Berkely u.a. 2003.

14 Christopher B. Balme, "Of Pipes and Parts. Die Kastraten in der Darstellungstheorie des frühen 18. Jahrhunderts", in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, hrg. von Hans-Peter Bayerdörfer, Tübingen 1999, S. 127–138.

15 Nach Margaret Reynolds, "Cherubino's Distractions", in: Ein Travesti. Women, Gender Subersion, Opera, hrg. von Corinne E. Blackmer und Patricia J. Smith,  New York 1995, S. 134.

16 Mit Hinweis auf Eike Rathgeber, "Was die Mode streng geteilt... Über Hosenrollen und andere Ungehörigkeiten in der Oper", in: Zerfall und Rekonstruktion. Identitäten und ihre Repräsentation in der österreichischen Moderne, hrg. von Hildegard Kernmayer, Wien 1999 (Studien zur Moderne 5), S. 190.

17 Nach Susanne Rauscher, "Sweet Transvestite: Hosenrollen in der Oper", in: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 22 (2004), S. 267.

18 Wendy Heller, Emblems of Eloquence (s. Anm. 13).

19 Dieser Komplex zu Stimme und Geschlecht im Post-Tridentinischen Italien ist Inhalt meiner Monographie, die sich in Vorbereitung befindet.

20 Marco Beghelli, "Erotismo canoro", in: Saggiatore musicale 7 (2000), H. 1, S. 122–136.

21 Gegenteilige Meinungen vertreten Giovanni Sole, der sich aber ausschließlich auf Kastraten im weltlichen Bereich im gesamten, vor allem auch späteren, Settecento bezieht, und Luca Scarlini, der ebenfalls auf das Settecento rekurriert, wobei sich beide hauptsächlich Quellen aus der Zeit des Niedergangs der Kastraten sowie nicht italienischer Sprache bedienen. Sole, Castrati e cicisbei, S. 26f., S. 38; und Scarlini, Lustrini per il regno dei cieli, S. 14f. (für beide s. Anm. 8).

22 Satira "La Musica", in: Salvatore Rosa. Satire, hrg. von Danilo Romei, kommentiert von Jacopo Manna, Mailand: Mursia, 1995.

23 "Nulla dico della sconvenevolezza delle voci, mentre le parti principali si vogliono rappresentate da i soprani, intantochè gli Eroi della Scena, in vece d'avere una virile, e gravissima voce, sconciamente compariscono parlanti con una mollissima, e femminile." Ludovico Antonio Muratori, zitiert nach Gerold Gruber, Der Niedergang des Kastratentums. Einen Untersuchung zur bürgerlichen Kritik an der höfischen Musikkultur […], Wien 1982, masch. Diss., S. 41.

24 Paolo Fabbri, Il secolo cantante. Per una storia del libretto d'opera nel Seicento, Bologna 1990.

25 Roger Freitas, Portrait of a Castrato (s. Anm. 7).

26 Dass Hermaphroditen stets eher als männlich wahrgenommen wurden, zeigt nach Klaus Herding Pugets Milon von Kroton, die er als Ausdruck einer Krise der Männlichkeit im absolutistischen Zeitalter deutet. Es geht um die zwischen 1671 und 1682 in Frankreich geschaffene Skulptur. Bezeichnenderweise kenne die Kunstgeschichte, so Herding, zwei Epochen der "Krise der Männlichkeit", nämlich die italienische Renaissance und die Zeit der französischen Revolution. Klaus Herding, "Identität und Begehren: Bildnisse effeminierter Männlichkeit in der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts", in: Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hrg. von Marianne Koos und Mechthild Fend (Literatur, Kultur, Geschlecht: Große Reihe 30), Köln u.a. 2004, S. 53–77.

27 Simonetta Chiappini, Folli, sonnambule, sartine. La voce femminile nell'Ottocento italiano, Florenz 2006.

28 So etwa 2012 in der Koproduktion des Rossini Oper Festival Pesaro und der Deutschen Oper Berlin durch Hadar Halévy, mit einer vergleichsweise in allen Lagen egalen, eher hellem Timbre geprägten Mezzosopranstimme, oder durch Vivica Geneaux, deren Stimme eine ebenfalls vergleichsweise egale, insgesamt aber sehr viel dunklere Färbung als die Halévys aufweist.